Kolumne

Populismus in der EU

von Daniel Woker | Dezember 2016
Ein von populistischen Regierungen dominiertes Europa ist eine schlechte Idee, aber wird schlimmstenfalls - mit Le Pen in Frankreich, Beppe der Clown in Italien, Geert Wilders in Holland, alle zu den bereits regierenden Populisten in Osteuropa stossend - schon bald Realität. Deren theoretische Wegbereiter sind am Werk.

Sie räumen ein, dass eine klare Volksmehrheit in den meisten EU-Ländern die Union nicht brexitartig verlassen will. Sie wünschen sich eine EU, in der vermeintlich völlig unabhängige Einzelstaaten lediglich aktuelle Herzensangelegenheiten ihrer Wutbürger via Brüssel koordinieren würden. Ist dies ein realistisches Szenario?

Es geht im Moment offensichtlich primär um Migration. Eine emotionslose Betrachtung zeigt, dass die Wellen von aussereuropäischen Flüchtlingen, wie wir sie im Sommer 2016 erlebt haben, einerseits und Binnenwanderung von EU-Bürgern andererseits zwei ganz verschiedene Dinge sind.

Was die über Mittelmeer und Balkan kommenden Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten und aus Afrika anbelangt, so haben Europa, primär Deutschland und Schweden ‘das geschafft’, jedenfalls im Moment. Die zahlenmässige Grenze ist aber bald erreicht, sowohl was das praktische Integrationspotential als auch die politische Verunsicherung der Wähler anbelangt. Dies umso mehr, als sich eine grössere Anzahl von EU-Mitgliedern weiterhin weigert, sich am gemeinsamen Lastentragen aussereuropäischer Immigration zu beteiligen.

Nun wird behauptet, dass populistische Regierungen, dank nationalistischer Kraftmeierei an die Macht gelangt, sich wunderbarerweise auf gemeinsames Vorgehen zur Sicherung der Grenzen einigen könnten, ungeachtet der Tatsache, dass sie gemeinsame europäische Beschlüsse, Organe und Strukturen ignorieren oder gar abschaffen wollen. Dies ist unmöglich, da hier schwierige, notwendigerweise durch eine zentrale Schaltstelle koordinierte, durchgeführte und überwachte Entscheidungen anstehen, wo etwa wirtschaftliche Vorteile gegen sicherheitspolitische Leistungen ausgetauscht werden.

Eine solche zentrale Schaltstelle besteht. Sie heisst europäische Kommission und beschäftigt eine im Vergleich mit nationalen Verwaltungen relativ geringe Anzahl von ‘Eurokraten’. Ihnen ist die schwierige Aufgabe übertragen, den Mittelweg zwischen mittelfristigem Vorteil für alle und kurzfristigen Interessen der Mitgliedstaaten zu finden.

Die wirtschaftlich bedingte Wanderung von Arbeitskräften im europäischen Binnenmarkt, dem auch die NichtEU-Mitglieder Schweiz und Norwegen angehören, ist eine ganz andere Sache und stellt eine eigentliche Erfolgsstory dar. Als eine der vier europäischen Freiheiten erlaubt sie den Arbeitskräften wie in jedem andern einheitlichen Markt, frei dorthin zu gelangen, wo Nachfrage und adequate Kompensation bestehen. Dies grundsätzlich innerhalb einer durch nationale Behörden geregelten Ordnung, um Gehaltsverzerrungen und Missbrauch sozialer Leistungen zu verhindern. Solche EU-kompatible Ordnungen, in der Schweiz flankierende Massnahmen genannt, bestehen und können angepasst werden, wenn die Notwendigkeit dazu offensichtlich wird. Jene, welche das Gegenteil behaupten, sind populistische Wellenreiter in der postfaktischen Welt des Donald Trump.

Ohne diese Freizügigkeit keine gut ausgebildeten Ärzte aus Deutschland und Krankenschwestern aus dem Balkan, welche für die Gesundheitsversorgung in der Schweiz, Schweden und Norwegen von zentraler Notwendigkeit sind. Ohne Architekten, Ingenieure und Techniker aus Südeuropa sowie ausgebildete Handwerker aus Osteuropa würde manche Baustelle in Grossbritannien und in Frankreich stillstehen. Bei der Ausbildung und Forschung, sei sie staatlich oder privatwirtschaftlich, kann Europa im weltweiten Vergleich nur mithalten, wenn die richtige Person am richtigen Platz eingesetzt wird, ungeachtet ihrer Nationalität.

Wie im Falle der Migration gehen die grossen aktuellen Herausforderungen – Klima, Umwelt und Energie, die Digitalisierung unseres Alltags, Ungleichheit und Sozialpolitik – weit über nationale Horizonte und einzelstaatliche Lösungen hinaus. Allein langfristig koordinierte Zusammenarbeit, eingeschlossen die Übertragung von Teilen formaler Souveränität, erlaubt es den nationalen Regierungen ihre Grundaufgaben zu erfüllen: ihren Bürgern ein besseres Leben zu sichern.

Verschiedene Ereignisse und weltweite Entwicklungen der letzten Zeit – Brexit, die Wahl von Trump, immer unverhohlener autoritär auftretende Regenten in China, Russland und der Türkei – scheinen die Grundlagen der bisherigen Ordnung und die dahinter stehenden Werte in und um Europa in Frage zu stellen. Eine Ordnung, von der nicht zuletzt eine grosse Mehrheit von Schweizern profitiert hat. Der europäische Schulterschluss, nach innen und als Projektion auf der globalen Bühne erscheint nötiger denn je. Die Alternative dazu bildet ein uneiniger Haufen weitgehend ohnmächtiger Nationalstaaten, die im 21sten und pazifischen Jahrhundert zudem am falschen Ende der eurasiatischen Landmasse gelegen sind.

Daniel Woker, ehemaliger Botschafter, Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen.