Vernehmlassung zur Umsetzung von Art. 121a BV

von SGA ASPE | März 2015
Sehr geehrter Herr Staatssekretär
Sehr geehrte Damen und Herren

Die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE erlaubt sich, im Rahmen der Vernehmlassung zur Umsetzung von Art. 121a BV ihre Stellungnahme einzureichen. Entsprechend ihrem statutarischen Auftrag, das Verständnis für Fragen der internationalen Beziehungen in der schweizerischen Öffentlichkeit zu fördern und den Dialog über Fragen der schweizerischen Aussenbeziehungen zu pflegen, konzentriert sich die Eingabe der SGA-ASPE auf jene Aspekte, welche ihr als aussenpolitisch besonders relevant erscheinen. Dabei zielt die Eingabe nicht auf die konkreten Gesetzesbestimmungen ab, welche der Bundesrat in die Vernehmlassung gegeben hat. Kritisiert werden vielmehr gravierende Lücken im erläuternden Bericht.

1. Gegenseitige Abhängigkeit von Innen- und Aussenpolitik
Mit Nachdruck möchte die SGA-ASPE darauf hinweisen, dass es sich bei der Umsetzung von Art. 121a BV um ein eminent aussenpolitisches Geschäft handelt. Es wäre deshalb verfehlt, würde die Debatte gleichsam in zwei Etappen geführt, indem zunächst auf ausländerrechtlicher, arbeitsmarktlicher und wirtschaftspolitischer Ebene eine Lösung gesucht und anschliessend die Frage geprüft wird, wie sich das Ergebnis mit bestehenden internationalen Verpflichtungen und Interessen vereinbaren lässt. Sachgerecht und zielführend ist allein ein Vorgehen, das die Frage der Zuwanderung bzw. Personenfreizügigkeit als genuin internationale Herausforderung begreift und als solche zur Debatte stellt.

Aus dieser Sicht rät die SGA-ASPE dazu, die Debatte um die Zuwanderung und um das Verhältnis zur Europäischen Union (EU) bzw. zum europäischen Binnenmarkt nicht in eine innen- und eine aussenpolitische Komponente aufzuspalten, sondern konsequent als Gesamtheit zu konzipieren und zu führen. Der schweizerische Souverän ist nicht so unbedarft, dass ihm eine in ihrem Wesen grenzüberschreitende Fragestellung nicht als solche zugemutet werden dürfte. Diese Zumutung aber ist eine zwingende Voraussetzung für sachgerechte Entscheidungen. Ohne Einsicht in den prinzipiell und seit jeher begrenzten Spielraum souveränen Handelns auf internationaler Ebene würde sich die Schweiz im Kontext von Integration und Globalisierung immer öfter in Sackgassen manövrieren.

Die Entscheidung, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen, hat die Schweiz im wohlverstandenen Eigeninteresse getroffen. Der Entscheid wurde im Wissen darum gefällt, dass in diesem Markt die EU die Regeln bestimmt und die Schweiz diese weitgehend zu übernehmen hat. Das gilt namentlich für die Freiheit des Personenverkehrs, die zu den fundamentalen Prinzipien des Binnenmarktes gehört. Sie ist innerhalb der EU nicht verhandelbar, und sie ist es aus Gründen der Gleichbehandlung der Marktteilnehmer auch nicht mit Vertragsstaaten ausserhalb der EU wie der Schweiz. Die SGA-ASPE plädiert für einen offenen und ehrlichen Umgang mit diesen Gegebenheiten und wendet sich gegen jeden Versuch, der Bevölkerung diesbezüglich eine Verhandlungsmasse vorzutäuschen.

2. Personenfreizügigkeit beruht auf Gegenrecht
Personenfreizügigkeit bedeutet nicht eine Einbahnstrasse aus Europa in die Schweiz, sondern die Strasse führt ebenso in die umgekehrte Richtung, in welcher sie ebenfalls rege befahren wird. In den Mitgliedstaaten von EU und EFTA, also im Europäischen Wirtschaftsraum, leben an die 500‘000 Schweizerinnen und Schweizer, was einen Zwölftel der in der Schweiz lebenden Staatsangehörigen ausmacht. Im Bericht wird die Personenfreizügigkeit jedoch als ein Phänomen dargestellt, welches lediglich die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften in die Schweiz mit sich bringt. Diese einseitige Optik ist verfehlt – auch in einem erläuternden Bericht betreffend den Entwurf zur Änderung des Ausländergesetzes.

Dies zeigt sich insbesondere bei den Ausführungen im Zusammenhang mit der Eventualität einer Kündigung des Freizügigkeitsabkommens (FZA). Als Nachteile, die mit einem solchen Schritt verbunden wären, erwähnt der Bericht ausschliesslich wirtschaftliche Probleme schweizerischer Unternehmen, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften und beim Zugang dieser Unternehmen zum europäischen Binnenmarkt. Warum verschweigt der Bericht die gravierenden Nachteile für schweizerische Staatsangehörige, deren Mobilität innerhalb Europas durch den Wegfall des FZA beeinträchtigt oder verunmöglicht würde?

Ausführungen zur Reziprozität hätten auch den Hinweis erlaubt, dass die Situation der EU/EFTA-Angehörigen in der Schweiz und jene der Schweizerinnen und Schweizer, die in EU/EFTA-Staaten leben und arbeiten, nicht getrennt betrachtet werden kann. Über die Bedingungen, unter welchen diese beiden Gruppen in ihren Aufenthaltsländern leben, kann nur gemeinsam bestimmt werden, also in Verhandlung zwischen allen beteiligten Staaten. Ein diesbezüglicher landesrechtlicher Alleingang entbehrt jeglicher Fairness. Zwar thematisiert der Bericht in Ziffer 3.2 die Notwendigkeit von Verhandlungen in diesem Bereich. Die wichtigste Begründung für diese Notwendigkeit aber wird verschwiegen, dass nämlich Personenfreizügigkeit in Europa multilateral geregelt wird und immer auf Gegenrecht beruht.

Zuwanderung wie Auswanderung involvieren naturgemäss mehrere Staaten und sind somit von Anbeginn an eine Angelegenheit, welche im internationalen Kontext gesehen und auf der Ebene der Staatengemeinschaft angegangen werden muss. Erst recht gilt dies für den europäischen Binnenmarkt. Es steht der Schweiz frei zu entscheiden, ob sie daran teilnehmen will oder nicht. Die Modalitäten der schweizerischen Partizipation hingegen können von keiner Seite im Alleingang gestaltet werden. Freizügigkeit ist deshalb nicht ein «böses Schicksal», das einem Land «widerfährt», sondern es ist eine auf Gegenseitigkeit beruhende Vereinbarung zwischen verschiedenen Staaten, und dies einerseits im allseitigen Interesse der beteiligten Staaten und andererseits im wohlverstandenen Interesse aller Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten. Wenn der Bericht nicht deutlich auf diese Zusammenhänge hinweist, trägt er zur Schaffung eines aussenpolitisch illusionären Klimas bei.

3. Unabdingbarkeit der Personenfreizügigkeit
Das FZA ist Teil des gesamten bilateralen Vertragswerks der Schweiz mit der EU. Es ist in diesem Vertragsbündel aber ein ganz besonderes und speziell wichtiges Element, weil von seiner Gültigkeit auch die Gültigkeit der sechs anderen Verträgedes Pakets «Bilaterale I» abhängt. Fällt das FZA, fallen auch sie dahin. Diese als «Guillotineklausel» bekannte Verknüpfung ist im Artikel 25 des FZA präzisumschrieben, und es ist wichtig, an dessen Inhalt zu erinnern, wird er in deröffentlichen Diskussion doch oft falsch wiedergegeben. Artikel 25 sieht einen eigentlichen Beendigungsautomatismus vor: «Die sieben Abkommen treten sechsMonate nach Erhalt der Notifikation über die Nichtverlängerung oder über die Kündigung ausser Kraft.» Das ist der reine Wein, welcher der Schweizer Bevölkerungeingeschenkt werden muss.

Art. 121a BV ist nur bei gleichzeitiger Kündigung des FZA wortgetreu umzusetzen. Die Kündigung aber führt automatisch zur Aufhebung der bilateralen Abkommen über den Landverkehr, den Luftverkehr, die Forschung, die technischen Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen und die Landwirtschaft. Die Aufhebung der Personenfreizügigkeit zerstört einen erheblichen Teil des bilateralen Vertragswerks und gefährdet in höchstem Masse den Bilateralismus als solchen. Die EU könnte im Sinne von völkerrechtlich begründeten Gegenmassnahmen sogar die Aussetzung anderer bilateraler Verträge beschliessen, vor welcher nicht einmal das Freihandelsabkommen von 1972 gefeit wäre. Erst recht wäre eine weitere Vertiefung der bilateralen Beziehungen kaum mehr möglich. Angesichts der Tatsache, dass fast alle relevanten politischen und wirtschaftlichen Kräfte der Schweiz bisher den bilateralen Weg als ur-schweizerischen «Königsweg» nach Europa qualifizieren, lassen sich die Folgen einer solchen Perspektive in etwa ermessen.

Die Schweiz ist nicht gezwungen worden, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen. Sie hat diesen Weg aus eigenem Interesse gewählt, und es steht ihr das Recht zu, aus diesem Binnenmarkt auch wieder auszutreten. Allerdings müsste sie in diesem Fall einen sehr hohen Preis bezahlen, einen ökonomisch sehr hohen Preis und einen politisch sehr hohen Preis. Der wirtschaftliche Preis wäre ein Wohlstandsverlust für die schweizerische Bevölkerung, der politische die Isolation auf dem Kontinent, in dessen Mitte sich die Schweiz befindet. Beides widerspricht nach Ansicht der SGA-ASPE diametral den nationalen Interessen dieses Landes.

4. Notwendigkeit einer nochmaligen Abstimmung über den bilateralen Weg
Es kann nicht bestritten werden, dass Art. 121a BV dem Mehrheitswillen des Souveräns Ausdruck verleiht. Das gilt aber für die bilateralen Verträge genauso. Sie alle wurden dem Stimmvolk vorgelegt, das FZA als einziger Vertrag sogar mehrfach. Alle bilateralen Verträge fanden Mehrheiten und deutlichere als Art. 121a BV. Der viel zitierte Volkswille ist also keineswegs unzweideutig erkennbar. Vielmehr befindet sich der Souverän im Widerspruch zu sich selbst. Aus diesem Widerspruch kann nur er selbst sich befreien. Es ist deshalb unabdingbar, dass ihm Gelegenheit gegeben wird, sich abschliessend zu äussern.

Dabei geht es um die Fragestellung, ob der bilaterale Weg mit der EU weitergeführt werden soll oder nicht. Die zu klärende Frage umfasst nicht allein die Personenfreizügigkeit, bei der es sich nur um eine Teilfrage handelt, sondern es geht ums Ganze, nämlich um die Beziehungen der Schweiz zur EU. Zusammen mit den EFTA-Staaten, die mit der EU über den EWR verbunden sind, gehören heute alle europäischen Staaten zu diesem Verbund. Bei der Fragestellung, ob der bilaterale Weg mit der EU weitergeführt werden soll, geht es somit um nichts weniger als das Verhältnis der Schweiz zu Europa schlechthin.

Die Schweiz hat alles Interesse an einer Weiterführung und am Ausbau guter Beziehungen mit der EU und ihren 28 Mitgliedstaaten. Für einen Staat im Herzen Europas verbietet sich jede Form von Isolation. Die wortgetreue Umsetzung von Art. 121a BV ist nicht möglich ohne Zerstörung oder zumindest massive Beschädigung des Bilateralismus. Dies kann verhindert werden, wenn Bundesrat und Parlament die Stimmberechtigten nochmals an die Urne rufen und ihnen jene Frage zum Entscheid vorlegen, um die es in Tat und Wahrheit geht, ob nämlich die Schweiz den bilateralen Weg weiter gehen soll.

5. Die aussenpolitische Perspektive
Es wäre fatal, würde die Diskussion um die Umsetzung von Art. 121a BV so geführt, dass in der schweizerischen Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, innenpolitisch wäre durchaus eine «Patentlösung» zu finden, wären da nicht Andere, die uns blockieren. Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Stellung der Schweiz in Europa den eigentlichen Gegenstand der aktuellen Debatte bildet. Diskussionen über eine mögliche Zuwanderungsbegrenzung müssen konsequent im Kontext der Partizipation der Schweiz am europäischen Binnenmarkt und am europäischen Rechtsraum geführt werden.

Die Diskussion über die Umsetzung von Art. 121a BV führt aber weit über diesen Kontext hinaus. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind nicht die Feinde der Schweiz, sondern ihre Nachbarn und wichtigsten Partnerinnen. Die Schweiz gehört zu ihnen und sie gehören zur Schweiz. Und es verbindet die Schweiz wesentlich mehr mit den Mitgliedstaaten der EU, als Trennendes zu beobachten wäre. Die EU sorgt in Europa seit 60 Jahren für Frieden, von dem auch die Schweiz massiv profitiert. Die EU stellt den weltweit grössten Raum dar, in welchem Rechtstaatlichkeit, Demokratie und die Menschenrechte gemeinsam gesichert werden. Es genügt ein Blick zurück in die Geschichte Europas der letzten 200 Jahre, um die Grösse dieser historischenLeistung zu ermessen.

Die Schweiz versteht sich als ein Land, das mit seinen Nachbarn friedliche und partnerschaftliche Beziehungen pflegt. Sie ist ein Staat, der sich auch ausserhalb derLandesgrenzen für Frieden, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie einsetzt. Diese aussenpolitische Perspektive gilt es in Diskussionen über die Umsetzung von Art. 121a BV immer wieder einzubringen. Geschieht dies nicht oder nicht konsequent, riskiert die Schweiz eine gefährliche Entwicklung. Der Souverän könnte in einem gelegentlich zu beobachtenden Irrglauben bestärkt werden, wonach innenpolitisch manches befriedigend geregelt werden könnte, wenn nur die EU dafür zu gewinnen wäre. Diesem Missverständnis kann nur durch die realistische Wahrnehmung der EU begegnet werden. Dazu gehört insbesondere die Wahrnehmung der Personenfreizügigkeit als eines der zentrale Elemente, deren sich die EU zur Sicherung des Friedens in Europa bedient.

Der bundesrätliche Bericht läuft Gefahr, Aussenpolitik gewissermassen zu Innenpolitik mit externem Störfaktor zu degradieren. Der Schweiz mit ihrer aussenpolitischen Tradition wird dies aber nicht gerecht. Dieses Land verfügt über lange Erfahrung darin, Unabhängigkeit und intensive Beziehungen zu seinem europäischen Umfeld in Einklang zu bringen. Daran gilt es heute anzuknüpfen.

Genehmigen Sie, Herr Staatssekretär, sehr geehrte Damen und Herren, den Ausdruck unserer vorzüglichen Hochachtung.

Mit freundlichen Grüssen

für die SGA-ASPE:
Dr. Gret Haller
Präsidentin

Bericht NZZ am Sonntag vom 15.3.2015