“2024 wird ebenso schlimm wie 2023 oder schlimmer”

von Johann Aeschlimann | Februar 2024
Gaza, Ukraine, Sudan, Nordkorea, Sahel: Der UNO-Sicherheitsrat ist über Kreuz, und ein Mitglied wie die Schweiz hat es schwer, irgendetwas zu bewegen. Der Experte der International Crisis Group in New York sieht wenig Aussichten, dass es 2024 besser wird.

Herr Gowan, wie läuft es für die Schweiz als Mitglied des Sicherheitsrats?

Sie haben ein äusserst professionelles und kompetentes Team hier in New York. Sie spielen eine wichtige Rolle, indem sie sicherstellen, dass das humanitäre Völkerrecht gebührend berücksichtigt wird. In mancher Hinsicht ist es eine sehr glaubwürdige Leistung, aber in einer sehr widrigen geopolitischen Lage. 2023…

…das erste Jahr der Schweizer Mitgliedschaft…

 …. war schlimmer als 2022, als die Vorgänger der Schweiz, Norwegen und Irland, noch  imstande waren, Kompromisse zu schmieden. Und es sieht so aus, also ob 2024 ebenso schlimm wird wie 2023 oder sogar schlimmer.

Wegen Russland?

2022 waren Russland und die USA sich noch nicht sicher über die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine. 2023 hat Russland eine aggressivere Haltung eingenommen, sowohl geopolitisch als auch im Sicherheitsrat. Der Umgang mit ihnen ist schwieriger, was das Leben für den Rat schwieriger macht. Und der Krieg in Gaza macht alles noch zehnmal schwieriger.

In vielen Konflikten, Gaza, Sudan, Ukraine, scheint das diplomatische Geschehen ausserhalb des Rats stattzufinden, und in anderen, zum Beispiel Myanmar, tut der Rat nichts.

Niemand sagt, dass der Sicherheitsrat seiner Rolle gemäss UNO-Charte nachkommt. Allerdings ist er nicht völlig kollabiert. Er kommt zu Entscheidungen, so wie die kürzlich verabschiedete Resolution, die die UNO-Finanzierung von Friedensmissionen der Afrikanischen Union ermöglicht.

Eine Problemregion ist Sahel und Westafrika, wo mittlerweile drei Länder von Militärputschisten regiert werden, welche die Regionalorganisation ECOWAS verlassen und in einem Fall, Mali, die UNO-Blauhelmtruppen aus dem Land geworfen haben. Die Schweiz ist Verhandlungsführerin – “penholder” – für das Mandat des UNO-Büros für Westafrika und Sahel, UNOWAS. Was wird von ihr erwartet?

Als penholder steht die Schweiz in einer Verantwortung. Eine wichtige Aufgabe ist zu versuchen, diese Position zu nutzen, um eine ernsthafte Diskussion darüber einzuberufen, was die UNO tun kann, um die Ausbreitung des islamischen Jihadismus auf die Länder an der Atlantikküste aufzuhalten. Das wird nicht einfach sein. Russland unterstützt die Putschführer. Die ehemalige Kolonialmacht ist stark betupft. Und das neue Ratsmitglied Algerien sieht es wohl nicht gern, wenn der Sicherheitsrat sich in der Region einmischt.

Was kann der Rat im Gazakrieg tun?

Der Zyklus aus diplomatischen Explosionen, gefolgt von Beruhigung, ein wenig Versöhnung und neuen Explosionen wird sich fortsetzen. Die grosse Frage ist, wie der Krieg endet. Es gibt ein halbwegs optimistisches Szenario: Waffenruhe, Befreiung der Geiseln, Waffenstillstand. In diesem Fall könnte der Sicherheitsrat eine Rolle spielen, indem er ein Nachkriegsarrangement unterstutzt. Das weniger optimistische Szenario ist, dass der Krieg sich über Monate hinzieht.

Sind die Entsendung von UNO-Friedenstruppen oder eine UNO-Verwaltung realistisch?

Das ist unwahrscheinlich. Aber die UNO wird eine riesige Rolle beim Wiederaufbau spielen, ungeachtet der Auseinandersetzungen um UNRWA, die Hilfsagentur für die Palästinenser.

Was wird der Rat im Fall der Ukraine unternehmen?

Er diskutiert weiter, aber selbst den engsten Freunden der Ukraine gehen die Varianten zur Verteidigung der ukrainischen Sache an der UNO aus. Die Wahrnehmung des Kriegs verschiebt sich. Bei einigen nicht-westlichen Staaten stelle ich eine Verlagerung der moralischen Gewichte fest. Es bleibt unbestritten, dass der russische Angriff auf die Ukraine eine Verletzung der UNO-Charta darstellt. Aber ich höre nun, wie Diplomaten hervorheben, dass die Ukraine sich entschieden habe, nicht zu verhandeln, sondern zu kämpfen – was ich übrigens verstehen, sie kämpfen, um ihr Land zu verteidigen. Ich höre auch, wie manche sagen, dass der Zweck der Bewaffnung der Ukraine nicht nur in der Unterstützung dieses Kampfes liege, sondern dass es auch darum gehe, Russland auszubluten.

Was halten sie von den Friedenstreffen wie demjenigen in Davos im vergangenen Monat?

Für die Ukrainer ist das smarte Taktik. Sie haben die Illusionen über die UNO verloren. Sie kommen nicht an die UNO, um in einer weiteren Resolution der Generalversammlung Unterstützung zu holen. Sie sehen mehr Wert in Treffen wie jenen in Davos oder Kopenhagen, wo sie direkt mit hohen Regierungsvertretern sprechen können. Für Länder wie Indien, die Verbindungen mit Russland unterhalten, machen diese Formate es leichter. Sie müssen nicht abstimmen. Die Ukrainer können diese Länder einbinden und so die einbezogene Gruppe vergrössern.

Die  Grundlage ist der 10-Punkte-Friedensplan der Ukraine. Kann die Schweiz so ein ehrlicher Makler sein?

Die Schweiz ist nicht allein. Es ist eine Mischung von Ländern, die diese Konferenzen veranstalten. Dänemark, Saudi-Arabien, Malta, die Schweiz.

 Mittlerweile sind über 80 Länder an den Diskussionen beteiligt, aber Russland nicht.

Für Russland ist der Selenskyj-Plan nicht umsetzbar. Es ist ausgeschlossen, dass ein Friedensplan unter diesen Bedingungen ausgehandelt werden kann. Solange Russland nicht kollabiert, werden die dereinstigen Friedensbedingungen in der Ukraine anders aussehen müssen. Aber die Ukrainer haben ihre Vorschläge intelligent genutzt, um internationale Debatten über Friedensoptionen zu formen.

Für Leute, die sich  nicht professionell mit Krieg und Militär befassen, sind die Verlustzahlen im Ukrainekrieg schockierend, ein Aufruf zum Handeln. Laut einer Schätzung sind 300 000 russische Soldaten gestorben. Ist so etwas ein Thema in New York?

Im Krieg in Äthiopien sind vor kurzem mehr Menschen umgekommen als im Krieg in der Ukraine, und niemand hat sich gross darum gekümmert. Die Schätzungen reichen bis 600 000. Die Zahl der Toten in einem Krieg wird nicht in diplomatisches Handeln übersetzt.

Eine weitere Rolle der Schweiz im Rat ist der Vorsitz im Sanktionsausschuss zu Nordkorea. Was steht an?

Im April steht das Mandat des Expertengremiums, das den Ausschuss unterstutzt, zur Erneuerung an. Russland, mit seinem engeren Verhältnis zu Nordkorea, könnte danach streben, es abzuändern oder zu blockieren. Das könnte zu einem richtigen Fight werden, und die Schweiz könnte darin verwickelt werden.

Die Schweizer sagen, die Verhandlungsführung über das Mandat und das Expertengremium liege bei den USA, und ihr Vorsitz im Ausschuss sei eine eher administrative Rolle.

Es ist eine sekundäre Rolle, aber eine verletzliche. Es geht um die drei Grossmächte USA, Russland und China. In der Vergangenheit haben einige nichtständige Ratsmitglieder versucht, Gemeinsamkeiten zu finden, was jetzt unmöglich ist, wie ich glaube. Die Schweizer könnten in einen Sturm geraten.

Eine Priorität des Schweizer Ratsmandats ist der Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und Sicherheitsfragen.  Es geschieht nicht viel. Könnte mehr getan werden?

Eine Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten glaubt ernsthaft, dass der Sicherheitsrat mehr tun sollte. Der Klimawandel ist eine existentielle Bedrohung für einige Länder, und er gestaltet Konflikte wie jene im Sahel oder in Ostafrika. Aber der Rat steckt fest. Russland und China opponieren. Deshalb verlegen die Schweiz und ihre Verbündeten sich auf einen Ansatz der kleinen Schritte, zum Beispiel, indem sie Formulierungen zum Klimawandel in Ratsmandate einbringen. In den kommenden Jahren, wenn die Auswirkungen des Klimawandels einen ernsthafteren Ansatz verlangen, werden wir darauf al seinen Prolog zurückblicken.

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Richard Gowan ist ein Experte für Sicherheitsfragen und leitet die UNO-Abteilung bei der Analyse- und Beratungsorganisation International Crisis Group in New York. Die Crisis Group bezeichnet sich als independent organisation working to prevent wars and shape policies that will build a more peaceful world. Sie wird von Regierungen (darunter die Schweiz), Stiftungen, Unternehmen und Privaten finanziert.