Interview

6 Fragen an Helen Keller

von Johann Aeschlimann | April 2024

“Demokratie ist kein Freipass für die Verletzung von Menschenrechten”


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilt, dass die Schweiz zuwenig gegen die Klimaerwärmung unternimmt und damit das Menschenrecht auf “Achtung des Privat- und Familienlebens” verletzt. Damit haben die Schweizer Klägerinnen, die “Klimaseniorinnen”, gewonnen. Weite Teile der Schweizer Öffentlichkeit sind über die “fremden Richter” empört. Völkerrechtlerin Helen Keller klärt einige Fragen.

Frau Professor, was folgt aus dem Richtspruch in Strassburg, der den “Klimaseniorinnen” Recht gibt? Ist er zwingend? Muss die Schweiz jetzt und ihren Klimaschutz anpassen? Wo liegt der Ball?

Die Urteile des Gerichtshofes sind verbindlich, aber die Schweiz verfügt über einen grossen Ermessensspielraum, wie sie das Urteil umsetzen muss. Der Ball liegt in erster Linie beim Bundesrat, der gemeinsam mit dem Parlament und ultimativ mit dem Volk Massnahmen zur Bekämpfung der Klimaerwärmung erarbeiten muss. Diese Vorschläge wird der Bundesrat dem Ministerkomitee des Europarates vorlegen, das für die Umsetzung der Urteile des EGMR verantwortlich ist.

Wie gross ist die Tragweite dieses Urteils? Was folgt für die Staaten ausserhalb der Schweiz und die “internationale Gemeinschaft” als Ganzes? Hat das Urteil eine Art Leitwirkung?

Das Urteil ging um die Welt. Es ist das erste Mal, dass ein internationales Gericht die Verbindung zwischen dem Klimaabkommen und den Menschenrechten herstellt. Der EGMR folgt damit einem Trend, der sich bereits auf nationaler Ebene (z.B. in den Niederlanden, in Frankreich, in Belgien und in Deutschland) abgezeichnet hat. Für die Details siehe diese Datenbank im Internet. Das Urteil stärkt vor allem Vereinigungen und Umweltorganisationen, die sich für Menschen einsetzen, die vom Klimawandel bedroht sind. Umweltbehörden und die nationalen Gerichte müssen die Anliegen solcher Organisationen gründlich prüfen.

Vertreter der bürgerlichen Parteien in der Schweiz werfen dem Gericht vor, die politische Willensbildung in der direkten Demokratie nicht zu begreifen. Sie sagen, wenn das Volk nicht mehr Klimaschutz wolle, könne ein Gericht nicht mehr Klimaschutz erzwingen. Ist dies triftig?

Der EGMR hat das schweizerische politische System durchaus verstanden. Demokratie ist aber kein Freipass und keine carte blanche für die Verletzung von Menschenrechten. Das gilt für alle 46 Staaten des Europarates, nicht nur für die Schweiz.

Der Präsident der Mittepartei sagt, das Urteil stehe für einen Trend, demokratisch zu fällende Entscheidungen auf die Gerichte zu verlagern. Anstatt politisch zu kämpfen, wird geklagt. Stimmt das ? Wenn ja; Kann dieses Urteil als Beleg herangezogen werden?

Das Recht ist immer nur so gut wie sein Durchsetzungsmechanismus. Menschenrechte können auf nationaler und internationaler Ebene durch Gerichte durchgesetzt werden. Dass Menschen das versuchen, ist legitim. Es kommt auch niemandem in den Sinn, einen Vermieter anzuprangern, nur weil er die ausgebliebenen Mietzahlungen vor einem Gericht geltend macht. Genau das haben die Klimaseniorinnen getan. Es wäre zudem ganz einfach gewesen für das Bundesgericht, die Sache in der Schweiz zu einem guten Abschluss zu bringen: Man hätte in Lausanne die Klagelegitimation der Vereinigung der Klimaseniorinnen prüfen und bejahen können (anstatt einfach offen zu lassen). Damit hätte das Bundesgericht die Sache an die untere Instanz zur inhaltlichen Prüfung zurückschicken können. Dann wäre es gar nicht zu einem Verfahren vor dem EGMR gekommen.

Kritiker  sehen im Urteil eine unangemessene Erweiterung der Menschenrechte, 1950, als die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet wurde, hat kein Mensch von Klimaveränderung und ihren Folgen gesprochen. Hat das Gericht die Menschenrechte erweitert oder nur in Bezug auf die neue Situation ausgelegt?

Alle Menschenrechtsorgane sind sich einig: Die Klimaerwärmung ist in den kommenden Jahren die grösste Herausforderung für die Menschenrechte. Viele Menschen sind davon existenziell bedroht. Da wäre es unverantwortlich, wenn der Gerichtshof sich diesen Fragen nicht stellen würde. Die Menschenrechte werden in allen Rechtsordnungen dynamisch ausgelegt (auch vom Bundesgericht), das heisst,  man schaut die neuen Bedrohungsformen an und untersucht, unter welches Menschenrecht – modern ausgelegt – diese fallen können. So kann die Rechtsprechung mit der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung einigermassen Schritt halten. So gilt das Briefgeheimnis auch für elektronische Post, obwohl es diese 1950 nicht gab.

Einige Vertreter der Schweizerischen Volkspartei fordern als Reaktion die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention, über deren Einhaltung der Gerichtshof in Strassburg wacht. Kann die Schweiz die Konvention aufkündigen, ohne ihre eigene Bundesverfassung zu verletzen? Was halten Sie von der Forderung?

Ja, eine Kündigung ist theoretisch möglich, wäre aber ein verheerendes Signal. Alle 46 Mitgliedstaaten des Europarates halten sich an die EMRK und akzeptieren die Rechtsprechung des EGMR. Nur drei Staaten machen nicht mit: Russland, Weissrussland und der Vatikanstaat. Diese Ländergruppe wäre für die Schweiz keine Option für einen alternativen Weg. Der Grundrechtsschutz in Europa ist eine der grossen Errungenschaften in Europa und hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir bis vor Kurzem von einem Krieg zwischen Mitgliedstaaten des Europarates verschont geblieben sind.

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Helen Keller ist Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich. 2006 bis 2011 war sie Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UNO, 2011 bis 2020 vollamtliche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, seit 2020 ist sie Richterin am Verfassungsgericht in Bosnien-Herzegowina.

Die Fragen wurden schriftlich gestellt und beantwortet.