Brexit, Tandem, Blöcke und Dynamiken in der EU

von Christoph Wehrli | Mai 2021
Grossbritannien wirkte in der EU meistens als Integrationsbremse, aber auch als dritte Kraft im Verhältnis Deutschland – Frankreich. In einer online durchgeführten Aussenpolitischen AULA hat Claire Demesmay ausgeführt, wie dieses Tandem nach dem Brexit neue Dynamiken entwickeln kann, wenngleich es immer wieder Gegenkräfte hervorruft.

In der Schweiz wird die Europäische Union oft mit «Brüssel» gleichgesetzt und verkannt, dass es ausserhalb der politisch-administrativen Zentrale lebendige Mechanismen der Integration gibt. Dr. Claire Demesmay, Programleiterin in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, hat mit einem Vortrag über das deutsch-französische Tandem im Post-Brexit-Europa eine andere Perspektive vermittelt – so, wie es sich die Vertreter der beiden Veranstalter gewünscht hatten: Rudolf Wyder, Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA), und Gilbert Casasus, Professor im Fachbereich Europastudien der Universität Freiburg, zugleich SGA-Vorstandsmitglied.

Initiativen und Reaktionen

Frankreich und Deutschland haben untereinander einen Bilateralismus entwickelt, der über eigene Institutionen wie einen Ministerrat verfügt, aber in das Entscheidungssystem der EU eingebettet ist. Wie die Beziehungen und Prozesse innerhalb der Union überhaupt ist das Funktionieren dieses Tandems durch den Brexit verändert worden. Die EU habe zwar einen herben Verlust erlitten, sagte Claire Demesmay, doch durch den Austritt des Vereinigten Königreichs sei auch ein Hauptgegner neuer Integrationsschritte weggefallen. In der Sicherheitspolitik beispielsweise hatte Grossbritannien noch ein Jahr nach dem Referendum sein Veto gegen die Schaffung eines Hauptquartiers für auswärtige Aktionen eingelegt, doch kam wenig später auf deutsch-französische Initiative ein Beschluss über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit zustande. Auch sei man in Brüssel überzeugt, dass es den Wiederaufbaufonds für die Nach-Corona-Zeit ohne Brexit nicht gäbe. Deutschland hatte für die gemeinsame Schuldenaufnahme eine seiner roten Linien aufgeben müssen.

Es gibt nach den Worten der Gastreferentin allerdings Wechselwirkungen zwischen Integration und Desintegration. Die losen Koalitionen gegen eine tiefere Integration hätten sich seit dem Brexit verstärkt, die Positionen verhärtet. Die vier ostmitteleuropäischen Visegrad-Staaten befürchten eine deutsch-französische Dominanz und blockieren weiterhin speziell den Ausbau der gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik. Die sogenannte Hanseatische Liga von zwölf mehrheitlich nordeuropäischen Staaten, die sich gegen eine weitere Risikoteilung in der Währungsunion wendet, reagierte offenkundig auf die Integrationsabsichten, die das Tandem 2018 in der Meseberger Erklärung bekundete. Die zu dieser Gruppierung gehörenden «frugalen Vier» liessen es immerhin nicht mit reiner Opposition gegen die gemeinsame Verschuldung bewenden, so dass es zu einem Kompromiss kommen konnte.

Ebenfalls eher paradoxerweise könnte sich der Brexit erschwerend auf die Konsensfindung innerhalb des Tandems auswirken. Grossbritannien hatte indirekt oft eine vermittelnde Funktion, da es wirtschaftspolitisch näher bei Berlin, verteidigungspolitisch näher bei Paris stand. Demesmay sieht noch keinen anderen Staat, der diese Rolle übernehmen könnte.

Die Ebene von Parlament und Regionen

Neue formelle Impulse gaben die zwei zentralen EU-Mitglieder ihrem Bilateralismus durch den Vertrag von Aachen (2019).  Er regelt unter anderem die Intensivierung der regionalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Dass dort von «Ausnahmeregelungen» die Rede ist und Demesmay als Beispiel die Umsetzung der Entsenderichtlinie nannte, konnte in der Schweiz die Hoffnung wecken, eine solche Flexibilität wäre auch im Verhältnis Brüssel - Bern möglich. Im betreffenden Vertragsartikel wird das europäische Recht aber ausdrücklich vorbehalten. In den gleichen Kontext gehört ein bilaterales Parlamentsabkommen. Es ist die Grundlage für eine gemeinsame Versammlung von 50 Repräsentanten, die zweimal pro Jahr tagt. Sie kann von den Regierungen Rechenschaft über die tatsächliche Kooperation verlangen, schafft zusätzliche Transparenz und dürfte dank Beteiligung der jeweiligen Oppositionsparteien die nationalen Trennlinien relativieren.

Grundsätzlich steht das deutsch-französische Duo aus Sicht der Wissenschafterin vor einem Dilemma: Je geschlossener es auftritt, desto mehr riskiert es, das Misstrauen anderer zu wecken. Blockaden liessen sich durch den Einbezug weiterer Mitgliedstaaten (wie Italiens in der Flüchtlingskrise 2015) entschärfen oder eben durch regionale Formate umgehen. Dass die beiden Staaten und ehemaligen mehrfachen Kriegsgegner ganz im Sinn von Europa zusammenspannen, schien Demesmay einfach vorauszusetzen. Namentlich bedeute die bilaterale Parlamentarische Versammlung keine Renationalisierung, bemerkte sie auf eine Frage nach dem Verhältnis zum Europäischen Parlament. Das Bemühen um gegenseitiges Verständnis – nicht um vollkommene Übereinstimmung –, die «Europäisierung in den Köpfen», soll exemplarisch sein, die regionale Kooperation, die allerdings noch wenig Resultate erbracht habe, könnte als Laboratorium wirken.

Am Schluss auf die europäische Verflechtung der Schweiz angesprochen, setzte die engagierte Forscherin «europäisch» übrigens nicht unbedingt mit der EU gleich. Sie verwendete zur Umschreibung vielmehr Begriffe wie Öffnung, Zusammenarbeit, Toleranz und Kompromissbereitschaft. Dachte sie dabei an die bundesrätliche Politik einseitiger Besitzstandswahrung?