Lesetipp
Bundesrat Pilet-Golaz, der «ewige Pessimist»
von
Christoph Wehrli
| Juni 2020
Mit einer ereignis- und personenbezogenen Darstellung kommt Hanspeter Born auf die schweizerische Aussenpolitik der Jahre 1939-1940 zurück. Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der im Zentrum steht, wird wohlwollend beleuchtet, doch bleibt der Eindruck ambivalent.
Die Geschichtsschreibung über die Schweiz in der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat ihr Hauptgewicht eine Zeit lang auf die Wirtschaft, die Flüchtlingspolitik und auf regionale Aspekte gelegt. Der Publizist Hanspeter Born konzentriert sich nun wieder auf die aussenpolitischen Entscheidungen, auf die verantwortlichen Persönlichkeiten und speziell auf Marcel Pilet-Golaz, der im Schlüsseljahr 1940 Bundespräsident und ab März, nach zehn Jahren an der Spitze des Post- und Eisenbahndepartements, Aussenminister war. Die gut 500-seitige Darstellung ist der vorweg publizierte mittlere Teil einer auf drei Bände angelegten Biografie und deckt die ersten 16 Kriegsmonate ab. Das Buch ist für eine breite Leserschaft bestimmt, verdient deswegen nicht weniger eine Diskussion.
Keine «Rehabilitation»
Der Waadtländer Freisinnige gilt als der «Anpasser», diente so aber auch als Sündenbock in Geschichtsdarstellungen, die im Übrigen den «Widerstand» betonten. Die Ausrichtung der Schweiz auf die sie umkreisenden Achsenmächte war ein allgemeineres Verhalten – und unmittelbar ein Erfolg. Der Autor, kündigt der «Waschzettel» des Buches an, werte Pilet «als klugen und standfesten Staatsmann», der die Schweiz geschickt durch stürmische Monate gesteuert habe. Der Text ist trotz positiver Grundtendenz differenzierter. So heisst es zwar, Pilet sei im Frühjahr 1940 zur «dominierenden Figur im Bundesrat geworden», es wird ihm «Waadtländer bon sens» attestiert und Intelligenz ohnehin. Er legte Wert auf den Primat der zivilen Behörden gegenüber dem General und wandte sich beispielsweise gegen die vom Oberbefehlshaber verlangte Vorzensur. Henri Guisans politische Initiativen, namentlich für eine Erkundungsmission ins Zentrum der nationalsozialistischen Macht, erscheinen demgegenüber als wenig durchdacht.
Born verschweigt indessen nicht Pilets «gelegentlich überhebliches Wesen», nennt ihn «Rechthaber» und charakterisiert seine oft angewandte Taktik etwas zwiespältig als ein Abwarten und Arbeiten auf Zeitgewinn. In der Einschätzung der umstrittenen Radioansprache vom 25. Juni stimmt der Autor dem Sozialdemokraten Robert Grimm zu: Sie «hätte kürzer sein können und dafür aufschlussreicher». Die Länge dürfte das kleinere Problem gewesen sein.
Hat sich Pilet zu sehr auf ein Andauern der nationalsozialistisch-faschistischen Vorherrschaft in Europa eingestellt? In seinen Äusserungen setzte er die Akzente unterschiedlich, und mit dunklen Andeutungen gab er manchmal vielerlei Interpretationen Raum. Seine Durchhalteparole («durer») und seine Ermahnungen zum Verzicht weisen nicht darauf hin, dass er sich mit den «neuen Verhältnissen» abgefunden hätte. «Das Böse wird immer bezwungen», sagte er im Dezember 1939. Doch nach der Niederlage Frankreichs im Juni hielt er einen «Kompromissfrieden» offenbar für das geringste Übel. Er misstraute Grossbritannien und den USA. Eine positive Rolle der Sowjetunion, die damals noch von Hitlers Aggressionspolitik profitierte, zog er, wohl auch als Antikommunist, kaum in Betracht. «Den ewigen Pessimisten» nennt ihn Born, und dieser Grundzug fällt vielleicht mehr ins Gewicht als einzelne fragwürdige Entscheide wie die Freilassung deutscher Flugzeugbesatzungen, die nach Grenzzwischenfällen interniert worden waren, zur Beschwichtigung Berlins.
Selbstverschuldetes Imageproblem
Zum Staatsmann fehlte Pilet eindeutig die Integrationsleistung im Innern. Er stand zwar, deutlicher als Philipp Etter, zu den staatlichen Institutionen, hielt aber in der Notsituation autoritäre Entscheide für unabdingbar und ärgerte sich in persönlichen Notizen über die «ultra-demokratischen und germanophoben Milieus – die Pressemilieus». Er verlangte für die Landesregierung geradezu blindes Vertrauen, zeigte solches umgekehrt aber weniger: Im Juli betonte er die Notwendigkeit, die Teil-Demobilmachung der Armee zu dosieren und die Truppen für den Ordnungsdienst vorzubereiten, weil es zu Arbeitslosigkeit und in der Folge zu Unruhen kommen könnte. Sein elitärer Habitus und seine Auffassung, das Reden ändere den Lauf der Dinge nicht, waren schlechte Voraussetzungen für eine vertrauensstiftende Kommunikation (der General sah und praktizierte es anders). Das nötige politische Gespür fehlte Pilet eklatant beim Umgang mit der Nationalen Bewegung. Er empfing Vertreter der NS-nahen Organisation, die der Bundesrat zwei Monate später verbieten sollte, und überliess es ihnen, darüber auf ihre Art die Öffentlichkeit zu informieren. So hat Pilet das einseitige Image bei Zeitgenossen und in der Nachwelt zu einem grossen Teil selber bewirkt.
Hanspeter Born hält sich mit Analysen und zusammenfassenden Urteilen zurück, will offenbar die Fakten und die in reichem Mass zitierten Quellen sprechen lassen. Der fast chronikartige Aufbau – mit Sprüngen an ausländische Schauplätze – dient nicht immer der Klarheit und Übersichtlichkeit; die Auswahl und die Gewichtung der Themen sind manchmal schwer nachvollziehbar. Weil der Autor Pilets persönlichen Nachlass benützen konnte, erfahren wir immerhin auch überraschende Details, so etwa, dass der Magistrat in freien Momenten seinen Bauernhof aufsuchte, pedantisch seinen Angestellten kontrollierte und am Pfingstmontag ein Kalb verkaufte – «Fr.1.90 das Kilogramm».
Hanspeter Born: Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster-Verlag, Basel 2020. 512 S., ca. Fr.32.-.
Die Geschichtsschreibung über die Schweiz in der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat ihr Hauptgewicht eine Zeit lang auf die Wirtschaft, die Flüchtlingspolitik und auf regionale Aspekte gelegt. Der Publizist Hanspeter Born konzentriert sich nun wieder auf die aussenpolitischen Entscheidungen, auf die verantwortlichen Persönlichkeiten und speziell auf Marcel Pilet-Golaz, der im Schlüsseljahr 1940 Bundespräsident und ab März, nach zehn Jahren an der Spitze des Post- und Eisenbahndepartements, Aussenminister war. Die gut 500-seitige Darstellung ist der vorweg publizierte mittlere Teil einer auf drei Bände angelegten Biografie und deckt die ersten 16 Kriegsmonate ab. Das Buch ist für eine breite Leserschaft bestimmt, verdient deswegen nicht weniger eine Diskussion.
Keine «Rehabilitation»
Der Waadtländer Freisinnige gilt als der «Anpasser», diente so aber auch als Sündenbock in Geschichtsdarstellungen, die im Übrigen den «Widerstand» betonten. Die Ausrichtung der Schweiz auf die sie umkreisenden Achsenmächte war ein allgemeineres Verhalten – und unmittelbar ein Erfolg. Der Autor, kündigt der «Waschzettel» des Buches an, werte Pilet «als klugen und standfesten Staatsmann», der die Schweiz geschickt durch stürmische Monate gesteuert habe. Der Text ist trotz positiver Grundtendenz differenzierter. So heisst es zwar, Pilet sei im Frühjahr 1940 zur «dominierenden Figur im Bundesrat geworden», es wird ihm «Waadtländer bon sens» attestiert und Intelligenz ohnehin. Er legte Wert auf den Primat der zivilen Behörden gegenüber dem General und wandte sich beispielsweise gegen die vom Oberbefehlshaber verlangte Vorzensur. Henri Guisans politische Initiativen, namentlich für eine Erkundungsmission ins Zentrum der nationalsozialistischen Macht, erscheinen demgegenüber als wenig durchdacht.
Born verschweigt indessen nicht Pilets «gelegentlich überhebliches Wesen», nennt ihn «Rechthaber» und charakterisiert seine oft angewandte Taktik etwas zwiespältig als ein Abwarten und Arbeiten auf Zeitgewinn. In der Einschätzung der umstrittenen Radioansprache vom 25. Juni stimmt der Autor dem Sozialdemokraten Robert Grimm zu: Sie «hätte kürzer sein können und dafür aufschlussreicher». Die Länge dürfte das kleinere Problem gewesen sein.
Hat sich Pilet zu sehr auf ein Andauern der nationalsozialistisch-faschistischen Vorherrschaft in Europa eingestellt? In seinen Äusserungen setzte er die Akzente unterschiedlich, und mit dunklen Andeutungen gab er manchmal vielerlei Interpretationen Raum. Seine Durchhalteparole («durer») und seine Ermahnungen zum Verzicht weisen nicht darauf hin, dass er sich mit den «neuen Verhältnissen» abgefunden hätte. «Das Böse wird immer bezwungen», sagte er im Dezember 1939. Doch nach der Niederlage Frankreichs im Juni hielt er einen «Kompromissfrieden» offenbar für das geringste Übel. Er misstraute Grossbritannien und den USA. Eine positive Rolle der Sowjetunion, die damals noch von Hitlers Aggressionspolitik profitierte, zog er, wohl auch als Antikommunist, kaum in Betracht. «Den ewigen Pessimisten» nennt ihn Born, und dieser Grundzug fällt vielleicht mehr ins Gewicht als einzelne fragwürdige Entscheide wie die Freilassung deutscher Flugzeugbesatzungen, die nach Grenzzwischenfällen interniert worden waren, zur Beschwichtigung Berlins.
Selbstverschuldetes Imageproblem
Zum Staatsmann fehlte Pilet eindeutig die Integrationsleistung im Innern. Er stand zwar, deutlicher als Philipp Etter, zu den staatlichen Institutionen, hielt aber in der Notsituation autoritäre Entscheide für unabdingbar und ärgerte sich in persönlichen Notizen über die «ultra-demokratischen und germanophoben Milieus – die Pressemilieus». Er verlangte für die Landesregierung geradezu blindes Vertrauen, zeigte solches umgekehrt aber weniger: Im Juli betonte er die Notwendigkeit, die Teil-Demobilmachung der Armee zu dosieren und die Truppen für den Ordnungsdienst vorzubereiten, weil es zu Arbeitslosigkeit und in der Folge zu Unruhen kommen könnte. Sein elitärer Habitus und seine Auffassung, das Reden ändere den Lauf der Dinge nicht, waren schlechte Voraussetzungen für eine vertrauensstiftende Kommunikation (der General sah und praktizierte es anders). Das nötige politische Gespür fehlte Pilet eklatant beim Umgang mit der Nationalen Bewegung. Er empfing Vertreter der NS-nahen Organisation, die der Bundesrat zwei Monate später verbieten sollte, und überliess es ihnen, darüber auf ihre Art die Öffentlichkeit zu informieren. So hat Pilet das einseitige Image bei Zeitgenossen und in der Nachwelt zu einem grossen Teil selber bewirkt.
Hanspeter Born hält sich mit Analysen und zusammenfassenden Urteilen zurück, will offenbar die Fakten und die in reichem Mass zitierten Quellen sprechen lassen. Der fast chronikartige Aufbau – mit Sprüngen an ausländische Schauplätze – dient nicht immer der Klarheit und Übersichtlichkeit; die Auswahl und die Gewichtung der Themen sind manchmal schwer nachvollziehbar. Weil der Autor Pilets persönlichen Nachlass benützen konnte, erfahren wir immerhin auch überraschende Details, so etwa, dass der Magistrat in freien Momenten seinen Bauernhof aufsuchte, pedantisch seinen Angestellten kontrollierte und am Pfingstmontag ein Kalb verkaufte – «Fr.1.90 das Kilogramm».
Hanspeter Born: Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster-Verlag, Basel 2020. 512 S., ca. Fr.32.-.
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