Der europapolitische Ball bei der ratlosen Schweiz

von Christoph Wehrli | September 2021
Nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU bleibt unklar, was die Schweiz wie erreichen will. In einer aussenpolitischen Aula wurde begründet, inwiefern einerseits eine längerfristige Klärung und Aufklärung, anderseits eine kurzfristige Schadensbegrenzung notwendig sei.

«Schweiz – EU: Wie weiter?», hat die SGA an einer gemeinsam mit Avenir Suisse an der Universität Bern durchgeführten Veranstaltung mit besonderem Grund gefragt, nachdem der Bundesrat am 26. Mai die Bemühungen um ein Rahmenabkommen mit der EU einseitig für gescheitert erklärt hatte. Die Präsidentin der SGA, die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder, äusserte auch vier Monate danach unvermindert heftige Kritik am «einsamen» Beschluss des Bundesrats. Wegen relativ kleiner Differenzen den Verhandlungstisch zu verlassen, bedeute sowohl einen Affront gegen den Partner als auch eine Anmassung mit Blick auf die Rechte von Parlament und Volk. Die Meinung der Aussenpolitischen Kommissionen wurde missachtet, den Stimmberechtigten, die zum Beispiel auch die vermeintlich unpopuläre Erweiterung der Personenfreizügigkeit gutgeheissen hatten, traute man keinen Entscheid zu. Im Unterschied zur Situation nach 1992, als dem Nein zum EWR-Beitritt die bilateralen Verhandlungen folgten, fehle heute ein Plan B, sagte Markwalder. Auch unterliege einer Illusion, wer einfach am Status quo festhalten wolle. Wenn nämlich die bilateralen Beziehungen nicht fortentwickelt würden, komme es, wie bereits festzustellen, zu ihrer Erosion.

Was die EU der Schweiz nicht abnehmen kann

Einen Blick – und eine Bestätigung - von der anderen Seite vermittelte per Video-Schaltung der französische Europaparlamentarier Christophe Grudler. Er ist Mitglied der für die Schweiz zuständigen Delegation sowie der Fraktion «Renaissance», zu der auch «La République en Marche» gehört. Grudler betonte, dass die EU zu keinem anderen Land derart enge Beziehungen etabliert habe wie zur Schweiz. Umso mehr bedeutete der Verhandlungsabbruch für ihn und viele seiner Kollegen eine grosse Enttäuschung. Der Entscheid des Bundesrats werde sich auch auf das Verhältnis der Schweiz zu den einzelnen Mitgliedsländern auswirken. Mit dem jetzigen Zustand könne es nicht sein Bewenden haben, zumal sich die Union seit dem Abschluss der bilateralen Abkommen verändert habe. Grudler sprach sich für einen Neubeginn in den Beziehungen aus, der über das «Technische» hinaus das Politische ins Auge fasst. Dabei rief er aber auch in Erinnerung, dass Brüssel «kein Rosinenpicken» zulässt und die Regeln des Binnenmarkts gegenüber allen Beteiligten durchzusetzen hat. Im Moment liege der Ball auf der Seite der Schweiz. Es sei an ihr, ihre europapolitische Vision zu entwickeln und Zeichen eines realen Willens zur Zusammenarbeit zu geben.

Die Bilateralen – Ziel oder Weg?

Die «Strategie» des Bundesrats hatte Aussenminister Ignazio Cassis an der Botschafterkonferenz im August skizziert: Bis Ende Jahr sollen die Beziehungen zur Europäischen Union stabilisiert werden, in den folgenden beiden Jahren werde es um die Methode dieser Beziehungen wie etwa eine politische Streitbeilegung, gehen, und eine dritte Phase, ab 2024, soll «der gemeinsamen Definition der Flughöhe unserer geregelten Beziehungen sowie deren Umsetzung gewidmet» sein. Diese recht abstrakten Ausführungen, auf die Markus Mugglin als Moderator der Diskussion hinwies, gehen offenbar von der Vorstellung aus, die Schweiz könne sich Zeit nehmen und Brüssel lasse sich auf ein solches Vorgehen ein.

In Wirklichkeit sei es bisher nicht einmal gelungen, die Abwärtsspirale der Beziehungen zu stoppen, hielt der Bündner SP-Nationalrat Jon Pult schonungslos fest. Es herrsche Planlosigkeit. Ein Dialog mit Brüssel und Cassis’ ganzes Drei-Phasen-Modell hätten nur einen Sinn, wenn man wisse, was man wolle. Es gelte nun zu fragen, weshalb es zur heutigen Situation gekommen sei. Den tieferen Grund sieht Pult darin, dass in den letzten 15 oder 20 Jahren keine seriöse, ehrliche und differenzierte Diskussion über die EU und die Rolle der Schweiz geführt worden sei. Der bilaterale «Weg» sei gewissermassen zum Ziel, zum Selbstzweck geworden. Es fehle ausserhalb eines kleinen Kreises am Verständnis, wie die Union funktioniere und was die Schweiz an ihr habe - an ihrem «besten Nachbarn, den sie je hatte». Schon der Begriff «bilateral» sei problematisch, da er suggeriere, es handle sich um das Verhältnis zweier gleichartiger Partner auf Augenhöhe und nicht um einen Einbezug der Schweiz in das Binnenmarktsystem der EU.

Nach der Meinung von Jon Pult gibt es keine «Abkürzung», keine Alternative zur Verbesserung der Sachkompetenz, zu einer Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit und zu einer Klärung der Frage, ob eine maximalisierte Selbstbestimmung oder eine Mitbestimmung in Europa vorzuziehen sei. Der Bündner Politiker, der den Europaausschuss der SP leitet, will den entsprechenden Prozess auch innerhalb seiner Partei in Gang bringen und dabei zu einem Konsens gelangen, wie er bezüglich des Rahmenabkommens gefehlt hat.

Die Zeit drängt

Votanten aus dem Publikum drängten darauf, auch die Probleme zu beachten, die sich namentlich für wichtige Teile der Wirtschaft und für die Forschung bereits heute ergeben. Mit Entscheiden bis nach den Wahlen des Jahres 2023 zu warten, wäre unverantwortlich. Christa Markwalder wies darauf hin, dass die direkten Handlungsmöglichkeiten des Parlaments gegenwärtig eher gering sind. Im Vordergrund steht die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde, wobei zum Zeitpunkt der Veranstaltung noch offen war, ob die Vorlage in der Herbstsession durch beide Kammern gehen werde. Über eine Volksinitiative sind bisher nur vage Pläne bekannt. Mehrfach wurde vorgeschlagen, es sollten weniger institutionelle und mehr inhaltliche Themen wie Klimapolitik oder Stromversorgung im Mittelpunkt stehen. Dies mag innenpolitisch naheliegen, doch dürften sich die strukturellen Gegebenheiten und Gretchenfragen nicht ausblenden lassen.