Kolumne

Die EU-Skepsis – ein paradoxer Reflex

von Hans-Jürg Fehr | Mai 2020
Die EU hat es schwer in der Schweiz, nicht nur bei den Nationalisten. Es schlägt ihr eine weit verbreitete Skepsis entgegen. Diese Haltung unterscheidet sich stark von derjenigen gegenüber den USA, obwohl die mit uns manchmal viel rabiater umgehen.

Wir erinnern uns, wie die Strafverfolgungsbehörden der USA nach der Finanzkrise die Schweizer Grossbanken in den Schwitzkasten nahmen und die Geschäftsmodelle aller Banken mit amerikanischer Kundschaft kostensteigernd verbürokratisierten. Es hat den USA im Urteil der Schweizerinnen und Schweizer kaum geschadet. Es schadet der Grossmacht auch nicht, wenn sie Schweizer Firmen zwingt, Sanktionsmassnahmen gegen den Iran mitzumachen, die ihr grossmäuliger Präsident verhängt hat, nicht die UNO. Dank Edward Snowden wissen wir, wie die amerikanischen Geheimdienste uns ausspionieren, als wären wir ein Volk im Feindesland. Haben sich unsere Nationalisten je gegen diese Einmischungen von aussen gewehrt? Haben sie Souveränitätsverluste beklagt oder die Unabhängigkeit des Landes in Gefahr gesehen? Nicht dass ich wüsste.

Manche Gründe für US-Skepsis
Von der EU sind Attacken und Zumutungen solcher Art nicht bekannt. Sie übt nicht einseitig Druck aus, sondern schliesst mit uns Verträge ab. Sie verkehrt mit uns auf Augenhöhe. Die USA operieren schon gar nicht mit Verträgen, die den Interessen beider Seiten Rechnung tragen. Sie setzen ihr Recht durch, auch ausserhalb ihrer Staatsgrenze und innerhalb unserer. Sie erzwingen Gefolgschaft, die EU pflegt Partnerschaft. Aber es ist paradoxerweise diese weiche Tour, diese Abwesenheit von Zwang und Druck, die mit Feindseligkeit quittiert wird, nicht die harte Tour der Amis. Das ist umso erstaunlicher als es eigentlich umgekehrt sein müsste, ist die EU doch in jeder Beziehung wichtiger für die Schweiz. Wenn wir Grund hätten, mit jemandem pfleglich umzugehen, dann mit ihr. Und wenn wir Grund hätten, jemandem unsere Stacheln zu zeigen, dann den USA.

Die USA spielen menschenrechtlich nicht in der obersten Liga und sind daran, sich von einer Demokratie in eine Plutokratie zu verwandeln. Die Geheimdienste überwachen in Kooperation mit den Internetkonzernen ihre Bevölkerung auf eine Art und Weise, die derjenigen Chinas näherkommt als der europäischen. Sozialstaat ist in den USA ein politisch mit Gewinn einsetzbares Schimpfwort, nicht eine zivilisatorische Errungenschaft. Dem Pariser Klimaabkommen gibt man den Laufpass. Aber all das hat das positive Image nicht wirklich beschädigen können, das sie in den zwei Weltkriegen militärisch und danach mit ihrer massenkulturellen Dominanz (Kino, TV, Musik, Sprache) erworben haben. Den USA verzeiht man in der Schweiz fast alles, der EU fast nichts.

Warum ist das so? Die Botschafter Deutschlands und Frankreichs in der Schweiz erinnerten mitten in der Corona-Krise an die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der drei Nachbarländer und bekannten öffentlich: „In der aktuellen Krise gab es in unseren Köpfen von einem Tag auf den andern keinen Unterschied mehr zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, das wurde uns deutlich bewusst.“ Damit haben sie natürlich recht, aber ist nicht genau das eine Wahrheit, die viele in der Schweiz nicht wahrhaben wollen und aggressiv von sich weisen? Sie können die offenkundige Tatsache nicht zugeben, dass wir über die zahlreichen bilateralen Verträge in vielerlei Hinsicht längst Teil der EU sind.

Nationalistischer Reflex
Nun ist aber die Union – im Gegensatz zu den USA – eine Staatengemeinschaft, die nicht dem Nationalismus frönt, sondern dem Internationalismus. Sie ist per se eine Organisation, die nationale Grenzen aufweicht. Und indem wir mit ihr partnerschaftlich kooperieren, unterstützen wir die Strategie der Grenzöffnungen. Wir tun es, weil es zu unserem Vorteil ist, aber wir tun es sozusagen knurrend. Die Vorteile müssen bezahlt werden. Der Preis ist die schrittweise Abkehr vom tief in der Volksseele verankerten Bild von der neutralen, unabhängigen und souveränen Schweiz, von der Insel im europäischen Meer. Das tut weh, nicht nur den harten Nationalisten von der politischen Rechten, sondern auch den weichen bis in die Linke hinein. Der Schmerz muss eine Ursache haben und die heisst EU. Die EU-Skepsis ist nichts anderes als der alte, tiefsitzende nationalistische Reflex, der für die eigenen „Sünden“ einen fremden Bock braucht. Dieser Mechanismus lässt sich auch in den EU-Mitgliedsländern beobachten, deren Regierungen eigenes Versagen gerne dem „Monster Brüssel“ in die Schuhe schieben. Die Schweiz passt folglich auch in dieser Hinsicht bestens zu einer Gemeinschaft, der sie nicht angehören will und es dennoch tut.

Nationalisten weichen Grenzen nicht auf, sondern ziehen sie hoch. Das Vereinigte Königreich verlässt die EU, die SVP will die Bilateralen Verträge kündigen, Ungarn und Polen foutieren sich um Gemeinschaftsrecht, die USA ziehen sich reihenweise aus internationalen Vereinbarungen zurück. Nationalisten verhalten sich nationalistisch und teilen wie ein strafender Vater Schläge aus. Aber auch ein strafender Vater bleibt ein Vater. Darum wird das rabiate Vorgehen der USA zwar nicht gutgeheissen, aber auch nicht mit Sympathieentzug quittiert. Der eigene schlummernde Nationalismus ist das Verständnisguthaben für den Nationalismus anderer.