Interview

«Ein gewisses Ungleichgewicht in der Positionierung der Schweiz» 

von Isolda Agazzi | April 2024
Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey vermisst in der aktuellen Krisenzeit eine klare Haltung der Schweizer Diplomatie. Als Garantin der Genfer Konventionen müsse sie ihr Engagement zugunsten der Zivilbevölkerung verstärken.

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Frau Calmy-Rey, 20 Jahre nach der Lancierung der Genfer Initiative erlebt der Nahe Osten den schlimmsten Krieg seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt?

Die von der Schweiz unterstützte Genfer Initiative war ein alternativer Friedensplan, der von den Zivilgesellschaften Palästinas und Israels unterzeichnet wurde und auf eine umfassende Beilegung des Konflikts und eine Zwei-Staaten-Lösung abzielte. Im Jahr 2022 entzog das EDA dieser Initiative die Unterstützung, sprach sich aber weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Es ist offensichtlich, dass das Ziel eines palästinensischen Staates auf der internationalen Agenda des letzten Jahrzehnts zweitrangig geworden ist. Der als aussichtslos betrachtete Konflikt wurde ausgeblendet und die Zwei-Staaten-Lösung weiterhin propagiert – doch blieben die westlichen Länder hinsichtlich ihrer Verwirklichung tatenlos. Nichts verdeutlicht dies besser als die Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die Auffassung war, dass die Normalisierung der Beziehungen der Golfstaaten zu Israel den Konflikt im Handumdrehen lösen würde; wie man sieht, ist dies aber nicht der Fall. Heute taucht die Idee der Zwei-Staaten-Lösung wieder auf, doch bleibt ihre Umsetzung schwierig, da die Fragen des Status von Jerusalem, des Siedlungsbaus und des Rückkehrrechts der Flüchtlinge weiterhin einer Antwort harren.

Davon abgesehen haben sich die Zeiten geändert. Ist die Zwei-Staaten-Lösung heute nicht noch schwieriger umzusetzen als vor 20 Jahren?

Ja, da haben Sie Recht. Nehmen Sie die Entwicklung der Zahl der jüdischen Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten: 1993 waren es 280’000, heute sind es 700’000. Der Bau des Trennzauns hat das Westjordanland in vollkommen unregierbare Mikro-Enklaven verwandelt. Über 90% des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan stehen unter direkter israelischer Kontrolle. Bisher ist die Zwei-Staaten-Lösung nichts als ein frommer Wunsch.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in der Region derzeit?

Es fällt mir schwer, eine klare Position der Schweiz zu erkennen. Ihre Aussagen sind inkonsistent. In ihrer offiziellen Stellungnahme rief sie die Parteien dazu auf, ihren Verpflichtungen gemäss Völkerrecht und humanitärem Völkerrecht nachzukommen. Zusammen mit 120 anderen Staaten stimmte sie an der UNO einer Resolution der Generalversammlung zu, die zu einem sofortigen humanitären Waffenstillstand aufrief. Bestimmte Kreise kritisierten diese Haltung jedoch. Gleichzeitig erklärte der Vorsteher des Aussendepartements (EDA), dass die Schweiz die Finanzierung von 11 Organisationen in Palästina und Israel aussetze, und kam damit dem Wunsch einiger politischer Parteien nach, zu prüfen, ob die Entwicklungshilfe zugunsten Palästinas gestrichen werden sollte. Letztendlich waren dann nur drei palästinensische Organisationen von diesem Finanzierungsstopp betroffen. In der Budgetberatung hat das Parlament in der Wintersession auch beschlossen, die 20 Millionen Franken, die der Bund jährlich an das UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) zahlt, nicht zu kürzen. Doch nach der Ankündigung der sofortigen Entlassung von 12 Mitarbeitern, die verdächtigt werden, mit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober in Verbindung zu stehen, könnte sich dies wieder ändern. Das Risiko ist leider nicht unerheblich, dass der Beitrag der Schweiz an die UNRWA letztendlich ausgesetzt wird, und dies trotz des humanitären Notstands in Gaza.

Was halten Sie von der Ankündigung der Schweiz, eine Friedenskonferenz zur Ukraine organisieren zu wollen?

Die offizielle Schweiz hat dies am WEF in Davos angekündigt. Üblicherweise finden zuerst Vorgespräche statt und es werden die Ziele des Treffens festgelegt; erst danach erfolgt die öffentliche Ankündigung. In Davos hat die Schweiz das Vorgehen umgekehrt. Im Übrigen ist die Situation anders als bei einer klassischen Vermittlung zwischen zwei Staaten, die sich in einem Konflikt befinden. Der Friedenskonferenz gehen vier Treffen von Sicherheitsberater:innen aus über 80 Ländern voraus. Alle waren öffentlich, das letzte fand in Davos statt. Es ist also eine angepasste Methodik festzustellen. Ich bin froh, dass die Schweiz sich bewegt und ihre – nicht zu vernachlässigenden – Stärken nutzt. Dennoch kann man zum jetzigen Zeitpunkt erst von einer «Vor-Vorbereitung» sprechen.

Was sehen Sie als nächsten Schritt?

Es ist unwahrscheinlich, dass Russland direkt am ersten Gipfeltreffen teilnimmt. Gleichzeitig ist eine Friedenskonferenz ohne Russland undenkbar. In Davos haben unsere Präsidentin und unser Aussenminister ihr Anliegen, Russland einzubeziehen, zum Ausdruck gebracht. Sie bekräftigten, dass die Schweiz mit möglichst vielen Staatschefs und -chefinnen zusammenarbeiten wolle, insbesondere mit den Staaten, die sich bislang eher auf der Seite Russlands positioniert haben. Wenn die Schweiz tatsächlich die Diskussion mitgestalten und sich nicht nur auf die Rolle der Gastgeberin beschränken will, wird sie auch inhaltliche Akzente setzen müssen. Deshalb ist die Teilnahme von russlandfreundlichen Staaten und von Russland selbst wichtig. Eine Einigung über die meisten Punkte des ukrainischen Friedensplans ist zum jetzigen Zeitpunkt unrealistisch. Die Schweiz müsste abstrakt die Punkte bestimmen, bei denen sich ein gemeinsamer Nenner zwischen den Unterstützern der Ukraine und jenen Russlands abzeichnet. Darüber hinaus gibt es technische Herausforderungen, bei denen im Interesse der Parteien Zwischenvereinbarungen getroffen werden könnten, zum Beispiel über Getreide, Gefangenenaustausch, die Sicherheit von Atomkraftwerken etc.

Sie waren die treibende Kraft hinter der Schweizer Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat. Welche Bilanz ziehen Sie nach einem Jahr?

Im Sicherheitsrat konnte die Schweiz ihre traditionelle Aussenpolitik fortsetzen. Mit Brasilien erleichterte sie den humanitären Zugang nach dem Erdbeben in Nordsyrien. Aber sie zog in einer Zeit in den Sicherheitsrat ein, in der der Multilateralismus auf der Kippe steht und durch das Veto der Grossmächte blockiert wird. Ich hätte erwartet, dass sie sich etwas dynamischer für die Anwendung des humanitären Völkerrechts einsetzt. Es ist schade, dass sie in dieser Hinsicht nicht mehr tut, denn was in der Ukraine oder im israelisch-palästinensischen Konflikt geschieht, wo die Genfer Konventionen von allen Seiten mit Füssen getreten werden, ist schlicht inakzeptabel: Seien es die wahllosen Bombardierungen in Gaza oder die kriegsverbrecherischen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober – es ist nicht hinnehmbar, dass zahlreiche israelische Zivilistinnen und Zivilisten  hingerichtet werden, dass Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza von der Hamas in eine Falle gelockt werden und dass die Auslieferung von Hilfsgütern behindert wird. Ich wünschte mir, dass die Schweiz sich lauter und deutlicher zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts bekennen würde. Immerhin ist Genf dessen Geburtsstätte und die Schweiz Garantin der Genfer Konventionen.

Die zehn gewählten Sicherheitsratsmitglieder haben nach mehreren Vetos der Grossmächte erreicht, dass der Rat zu einer Waffenruhe in Gaza während des Ramadan aufruft. Die Schweiz sagt, sie habe massgeblich daran mitgewirkt, namentlich in den Passagen, die das humanitäre Völkerrecht betreffen. Ändert dies Ihre Einschätzung der Schweizer Leistung im Rat? 

 Im Sicherheitsrat beteiligte sich die Schweiz  an den Verhandlungen, in denen die Einstellung der Feindseligkeiten in Gaza gefordert wurde. Dies ist ein positiver Punkt, den ich begrüsse. Abgesehen von dieser Episode spürt man heute noch ein gewisses Ungleichgewicht in der Positionierung der Schweiz. Von der Schweiz wird erwartet, dass sie sich unparteiisch verhält und sich für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts immer und überall aktiv einsetzt. 

 Gleichzeitig wirkt der Multilateralismus angeschlagen... Haben Sie noch Vertrauen in die UNO-Institutionen und welche Rolle sollten die Schweiz und das internationale Genf spielen?

 Der Sicherheitsrat wird durch Vetos beider Seiten blockiert. Genf ist Heimat vieler technischer Organisationen, und wenn man von der Erosion des Multilateralismus spricht, gilt es, hier genau hinzuschauen. Das Palais des Nations wurde kürzlich zwei Wochen lang geschlossen, um Heizkosten zu sparen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wird 4’000 Stellen abbauen und auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) plant Entlassungen im grossen Stil. Genf beherbergt eine beeindruckende Anzahl technischer UN-Organisationen, die sich momentan in Schwierigkeiten befinden. Die UNO ist aber auch auf Daten angewiesen, die für das reibungslose Funktionieren der Globalisierung notwendig sind: Sie kümmert sich um Mobilfunkfrequenzen, Patente und Marken, öffentliche Gesundheit, Arbeitsbedingungen, Klima, Koordination der humanitären Hilfe. Die erzeugten Daten folgen jedoch keinen gemeinsamen Standards, was ihre Nützlichkeit beeinträchtigt. Bei den Vereinten Nationen herrscht erheblicher Reformbedarf. Dies gilt nicht ausschliesslich für den Sicherheitsrat, sondern auch für die technischen Organisationen, deren Arbeitsabläufe effizienter werden müssen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz? Sollte Ihrer Meinung nach auf das reguläre Budget der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zugegriffen werden, um den Wiederaufbau in der Ukraine zu finanzieren?

Ehrlich gesagt habe ich keine Informationen darüber, wie die Gelder verteilt werden. Laut Website der DEZA fördert sie die politische und wirtschaftliche Autonomie der Staaten. Die Priorität der Schweiz war und ist es, den ärmsten Bevölkerungsgruppen zu helfen. Auf jeden Fall halte ich es für aussenpolitisch unhaltbar, die Hilfe für die ärmsten Länder – ein regulärer Budgetposten mit jährlicher Fortschreibung und ein nachhaltiges Ziel der DEZA – zu kürzen, um sie für die Wiederaufbauhilfe in der Ukraine zu verwenden. Letzteres ist sicherlich ein hehres und notwendiges Ziel, das jedoch hoffentlich zeitlich begrenzt ist und meiner Meinung nach eine Sonderfinanzierung erhalten sollte.

Existiert die Schweizer Neutralität heute noch?

Die Schweiz betreibt heute die Politik eines neutralen Staates. Sie liefert keine Waffen an Kriegsparteien, weder direkt noch über Vermittler. Sie verurteilt den Angriffskrieg Russlands, weil er gegen das Völkerrecht verstösst. Sie verhängt Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Wäre die Verurteilung des russischen Vorgehens nicht von Sanktionen begleitet gewesen, hätte die Schweiz die Umgehung der EU-Sanktionen ermöglicht und sich damit auf die Seite des Aggressors gestellt. Nichtsdestotrotz ist es für die Schweizer Bevölkerung schwer zu verstehen, warum keine Waffen an die Ukraine geliefert werden, an Saudi-Arabien, das im Jemen Krieg führt, hingegen schon. Der Krieg in der Ukraine ist atypisch für unsere Zeit. Bewaffnete Konflikte zwischen Staaten sind heute die Ausnahme. Was zunimmt, sind zivile Konflikte, ebenso wie Cyberangriffe. Und was tun, wenn die Dinge noch komplizierter werden? Gemäss dem Neutralitätsrecht ist der Export von Waffen nach Saudi-Arabien nicht verboten, da es sich im Jemen nicht um einen zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt handelt. Wie man sieht, stellt die Definition von Krieg durch das Neutralitätsrecht eine Herausforderung dar.

Als Sondergesandte der Generalsekretärin der Internationalen Organisation der Frankophonie für die Beobachtung der Lage in Madagaskar haben Sie kürzlich eine Wahlmission der Frankophonie in Antananarivo geleitet. In diesem Jahr wird eine Rekordzahl von Menschen weltweit an Wahlen teilnehmen. Ist dies eine entscheidende Bewährungsprobe für die Demokratie?

In Madagaskar war die Frage, die sich der Gemeinschaft gleichgesinnter Länder (Schweiz, EU, USA und westliche Staaten) stellte, etwas anders gelagert. Madagaskar ist eine Schnittstelle zwischen Afrika und China, mit einer chinesischen und russischen Präsenz. Die Gemeinschaft gleichgesinnter Länder beobachtete den Wahlprozess und gab Kommentare ab. Sie wünschte sich einen inklusiveren, transparenteren und offeneren Wahlprozess, erklärte sich aber aus geopolitischen Gründen bereit, einen suboptimalen Prozess zu finanzieren, der in der Wahl des amtierenden Präsidenten endete. Wohlgemerkt: Madagaskar ist sehr arm und die Wahlprozesse können nicht mit den Massstäben der Schweiz beurteilt werden. Nicht alle Madegassen haben Zugang zu Elektrizität, nicht alle Wahllokale sind vernetzt und es mangelt an Kommunikationsmitteln.

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Micheline Calmy-Rey war von 2002 bis 2011 als Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Aussenministerin der Schweiz. Sie ist Ehrenvorsitzende der SGA-ASPE. Das Interview wurde Ende Januar 2024 von global, dem Magazin der Organisation Alliance Sud, auf Französisch geführt und im Lichte der Gaza-Resolution des Sicherheitsrats ergänzt.