Kolumne
Eine patriotische Tat?
von
Rudolf Wyder
| Juni 2016
Eine diplomatische Heldentat braucht es, um bei der Personenfreizügigkeit aus der Sackgasse herauszufinden. Statt Goodwill zu schaffen, richtet das Parlament derweil Flurschaden an.
Heldentaten sind gefordert, wenn die Lage ernst, der Einsatz hoch, der Gegenwind heftig ist. Zu einer Art heroischem Befreiungsschlag haben sich die eidgenössischen Räte aufgerafft. Allerdings trägt dieser nicht zur Lösung der Probleme bei, die wir uns mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative eingebrockt haben und die das in zweieinhalb Jahrzehnten aufgebaute Konstrukt der bilateralen Verträge mit der EU zum Einsturz zu bringen drohen.
Die Rede ist vom Beschluss von National- und Ständerat, den Bundesrat zu beauftragen, das 1992 bei der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deponierte Gesuch um Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zurückzuziehen.
Eigentlich sind sich alle einig: Das Verhandlungsgesuch ist längst gegenstandslos und als Aktenstück aus ferner Vergangenheit definitiv archiviert. In Brüssel wird die Schweiz nicht als Beitrittskandidat geführt. In der Schweiz ist ein EU-Beitritt kein Thema.
Gestellt wurde das Verhandlungsbegehren vor 24 Jahren, weil eine Mehrheit des Bundesrates am Ende der EWR-Verhandlungen zum Schluss gelangte, wichtige Verhandlungsziele seien nicht erreicht worden. Unerfüllt blieb insbesondere der Wunsch nach Mitbestimmung bei Entscheidungen, die auch für die Schweiz als Teilnehmerin am europäischen Binnenmarkt gelten. Nur die EU-Mitgliedschaft könnte dieses Defizit beheben.
Das Nein zum EWR-Beitritt in der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 machte Verhandlungen über eine weitere Annäherung illusorisch. Das Verhandlungsgesuch wurde damit gegenstandslos. Die Ablehnung des multilateralen EWR durch eine knappe Volksmehrheit und eine deutliche Mehrheit der Stände liess kein Mehr an Integration zu, sondern höchstens ein Weniger. Also suchte man bilateral in langen, zähen Verhandlungen nach sektoriellen Lösungen. Mit beachtlichem Erfolg – darin liegt auch ein bemerkenswertes Entgegenkommen der Union für den Schweizer Sonderweg.
Weder innen- noch aussenpolitisch hilfreich
Und wozu jetzt das Schriftstück aus einem anderen Zeitalter wieder aktivieren, nur um festzustellen, dass es nicht mehr gilt? Innenpolitische Opportunität gegen aussenpolitische Vernunft. Offenbar meint man, damit einen Stein des Anstosses aus dem Weg zu räumen, um danach unbelastet über die eigentlichen Herausforderungen diskutieren zu können.
Wird diese Beschwichtigungsgeste die Debatte über das Verhältnis der Schweiz zur EU wirklich versachlichen? Glaubt jemand im Ernst, eingefleischte EU-Gegner liessen sich davon abhalten, ihr groteskes Zerrbild der EU zu verbreiten und den Zusammenschluss als «intellektuelle Fehlkonstruktion» zu verunglimpfen? Meint man wirklich, Nationalisten hörten nun auf, von «schleichendem EU-Beitritt» zu schwadronieren oder ein allfälliges Rahmenabkommen im Voraus als Kolonialvertrag anzuprangern? Glaubt man, Demagogen davon abhalten zu können, essentielle Fragen zu tabuisieren und Verfechter einer offenen, kooperativen Schweiz als Landesverräter zu qualifizieren?
Im Lichte der Erfahrung erscheint diese Erwartung als reichlich naiv. Innenpolitisch bringt die Konzession nichts, aussenpolitisch ist der Flurschaden hingegen gewiss. Wer den Vorgang von aussen beobachtet, wird sich fragen: Womit beschäftigen sich die Schweizer eigentlich? Wollen sie in der Frage der Personenfreizügigkeit zu einem Einvernehmen gelangen? Oder sind sie auf Provokation aus? Wollen sie die Verbindungen zu ihren wichtigsten Partnern weiterentwickeln? Oder sind sie ihrer Nachbarn überdrüssig? Hat sie die Lust gepackt, sich auch noch eine Tranche Brexit abzuschneiden?
Der Parlamentsbeschluss ist ein weiteres Eigentor. Und dies unmittelbar vor schwierigen Verhandlungen unter selbst verursachtem Zeitdruck. Verhandlungen, in welchen wir Bittsteller sind, weil wir geschlossene Verträge in Frage stellen. Verhandlungen, in welchen wir auf Goodwill und Entgegenkommen dringend angewiesen sind.
Die Krone setzt der Politposse jener Ständerat auf, der empfiehlt, den schweizerischen Nationalfeiertag zu wählen, um der EU kundzutun, man gedenke nicht über einen Beitritt zu verhandeln. Der Rückzieher also gleichsam als patriotische Tat. Provinzieller geht’s kaum noch. Mut braucht es alleweil, zu schiessen, aber man ziele doch nicht auf den eigenen Fuss. Oder auf den Rücken der Diplomaten, die gerade jetzt in Brüssel nichts Geringeres als die Quadratur des Kreises realisieren sollen. Sie müssen nun zum Auftakt dieser schwierigen Mission ein Schreiben überreichen, das die Gegenseite nur als Affront verstehen kann. Aber mit etwas Glück lassen es unsere Freunde ja bei Kopfschütteln bewenden…
Aussenpolitik eignet sich für Heldentaten dieser Art besonders schlecht. Innenpolitische Fehlschüsse können wir selber korrigieren. Bei den Aussenbeziehungen geht es naturgemäss nicht ohne Partner. Und da wäre es wohl schlauer, Goodwill zu schaffen als mutwillig Landschaden anzurichten.
Die Schweiz braucht dringend mehr Aussenpolitiker. Leute, die in grenzüberschreitenden Kategorien denken. Politiker, die aussenpolitische Strategie über innenpolitischen Opportunismus stellen und die bereit sind, realistische, konstruktive Aussenpolitik vor dem Volk zu vertreten. Die Kosten isolierter patriotischer Heldentaten sollten wir uns sparen.
PS In einer offiziellen Broschüre der Union zur EU-Erweiterung – datiert von 2015 – wird die Schweiz ausdrücklich als Nicht-Beitrittskandidatin aufgeführt. Auszug aus Broschüre «EU-Erweiterung»
Heldentaten sind gefordert, wenn die Lage ernst, der Einsatz hoch, der Gegenwind heftig ist. Zu einer Art heroischem Befreiungsschlag haben sich die eidgenössischen Räte aufgerafft. Allerdings trägt dieser nicht zur Lösung der Probleme bei, die wir uns mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative eingebrockt haben und die das in zweieinhalb Jahrzehnten aufgebaute Konstrukt der bilateralen Verträge mit der EU zum Einsturz zu bringen drohen.
Die Rede ist vom Beschluss von National- und Ständerat, den Bundesrat zu beauftragen, das 1992 bei der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deponierte Gesuch um Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zurückzuziehen.
Eigentlich sind sich alle einig: Das Verhandlungsgesuch ist längst gegenstandslos und als Aktenstück aus ferner Vergangenheit definitiv archiviert. In Brüssel wird die Schweiz nicht als Beitrittskandidat geführt. In der Schweiz ist ein EU-Beitritt kein Thema.
Gestellt wurde das Verhandlungsbegehren vor 24 Jahren, weil eine Mehrheit des Bundesrates am Ende der EWR-Verhandlungen zum Schluss gelangte, wichtige Verhandlungsziele seien nicht erreicht worden. Unerfüllt blieb insbesondere der Wunsch nach Mitbestimmung bei Entscheidungen, die auch für die Schweiz als Teilnehmerin am europäischen Binnenmarkt gelten. Nur die EU-Mitgliedschaft könnte dieses Defizit beheben.
Das Nein zum EWR-Beitritt in der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 machte Verhandlungen über eine weitere Annäherung illusorisch. Das Verhandlungsgesuch wurde damit gegenstandslos. Die Ablehnung des multilateralen EWR durch eine knappe Volksmehrheit und eine deutliche Mehrheit der Stände liess kein Mehr an Integration zu, sondern höchstens ein Weniger. Also suchte man bilateral in langen, zähen Verhandlungen nach sektoriellen Lösungen. Mit beachtlichem Erfolg – darin liegt auch ein bemerkenswertes Entgegenkommen der Union für den Schweizer Sonderweg.
Weder innen- noch aussenpolitisch hilfreich
Und wozu jetzt das Schriftstück aus einem anderen Zeitalter wieder aktivieren, nur um festzustellen, dass es nicht mehr gilt? Innenpolitische Opportunität gegen aussenpolitische Vernunft. Offenbar meint man, damit einen Stein des Anstosses aus dem Weg zu räumen, um danach unbelastet über die eigentlichen Herausforderungen diskutieren zu können.
Wird diese Beschwichtigungsgeste die Debatte über das Verhältnis der Schweiz zur EU wirklich versachlichen? Glaubt jemand im Ernst, eingefleischte EU-Gegner liessen sich davon abhalten, ihr groteskes Zerrbild der EU zu verbreiten und den Zusammenschluss als «intellektuelle Fehlkonstruktion» zu verunglimpfen? Meint man wirklich, Nationalisten hörten nun auf, von «schleichendem EU-Beitritt» zu schwadronieren oder ein allfälliges Rahmenabkommen im Voraus als Kolonialvertrag anzuprangern? Glaubt man, Demagogen davon abhalten zu können, essentielle Fragen zu tabuisieren und Verfechter einer offenen, kooperativen Schweiz als Landesverräter zu qualifizieren?
Im Lichte der Erfahrung erscheint diese Erwartung als reichlich naiv. Innenpolitisch bringt die Konzession nichts, aussenpolitisch ist der Flurschaden hingegen gewiss. Wer den Vorgang von aussen beobachtet, wird sich fragen: Womit beschäftigen sich die Schweizer eigentlich? Wollen sie in der Frage der Personenfreizügigkeit zu einem Einvernehmen gelangen? Oder sind sie auf Provokation aus? Wollen sie die Verbindungen zu ihren wichtigsten Partnern weiterentwickeln? Oder sind sie ihrer Nachbarn überdrüssig? Hat sie die Lust gepackt, sich auch noch eine Tranche Brexit abzuschneiden?
Der Parlamentsbeschluss ist ein weiteres Eigentor. Und dies unmittelbar vor schwierigen Verhandlungen unter selbst verursachtem Zeitdruck. Verhandlungen, in welchen wir Bittsteller sind, weil wir geschlossene Verträge in Frage stellen. Verhandlungen, in welchen wir auf Goodwill und Entgegenkommen dringend angewiesen sind.
Die Krone setzt der Politposse jener Ständerat auf, der empfiehlt, den schweizerischen Nationalfeiertag zu wählen, um der EU kundzutun, man gedenke nicht über einen Beitritt zu verhandeln. Der Rückzieher also gleichsam als patriotische Tat. Provinzieller geht’s kaum noch. Mut braucht es alleweil, zu schiessen, aber man ziele doch nicht auf den eigenen Fuss. Oder auf den Rücken der Diplomaten, die gerade jetzt in Brüssel nichts Geringeres als die Quadratur des Kreises realisieren sollen. Sie müssen nun zum Auftakt dieser schwierigen Mission ein Schreiben überreichen, das die Gegenseite nur als Affront verstehen kann. Aber mit etwas Glück lassen es unsere Freunde ja bei Kopfschütteln bewenden…
Aussenpolitik eignet sich für Heldentaten dieser Art besonders schlecht. Innenpolitische Fehlschüsse können wir selber korrigieren. Bei den Aussenbeziehungen geht es naturgemäss nicht ohne Partner. Und da wäre es wohl schlauer, Goodwill zu schaffen als mutwillig Landschaden anzurichten.
Die Schweiz braucht dringend mehr Aussenpolitiker. Leute, die in grenzüberschreitenden Kategorien denken. Politiker, die aussenpolitische Strategie über innenpolitischen Opportunismus stellen und die bereit sind, realistische, konstruktive Aussenpolitik vor dem Volk zu vertreten. Die Kosten isolierter patriotischer Heldentaten sollten wir uns sparen.
PS In einer offiziellen Broschüre der Union zur EU-Erweiterung – datiert von 2015 – wird die Schweiz ausdrücklich als Nicht-Beitrittskandidatin aufgeführt. Auszug aus Broschüre «EU-Erweiterung»
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