Kolumne

Nur Zuwanderung sichert Wohlstand

von Hans-Jürg Fehr | Dezember 2023
Die Länder Europas und mit ihnen die Schweiz laufen gerade sehenden Auges in eine teuflische Zwickmühle hinein. Sie können ihren Fachkräftemangel nur mittels Zuwanderung beseitigen; Zuwanderung aber bringt die Zuwanderungsfeinde an die Macht. Was tun?

Der Fachkräftemangel ist in Westeuropa jetzt schon deutlich spürbar. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird er dramatisch zunehmen. Das lehrt uns die Demografie und die lässt wenig Spielraum für Interpretationen. Die Bevölkerungen Westeuropas werden schrumpfen, weil die Sterberate seit langem schon grösser ist als die Geburtenrate. Der Mangel an Arbeitskräften geht bereits jetzt in die Millionen. Tendenz: Stark steigend. Er lässt sich mit gewissen Massnahmen zwar mildern wie etwa dem vermehrten Einbezug junger Mütter ins Erwerbsleben dank optimierter Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Er lässt sich mildern durch den vermehrten Einsatz von Robotern. Er lässt sich derzeit noch mildern durch die Personenfreizügigkeit in der EU, aber nicht mehr lange. Die Arbeitsmigration von Ost nach West und von Süd nach Nord wird abnehmen, weil die bisherigen Auswanderungsländer dieselben demografischen Probleme haben wie die Einwanderungsländer. Sie müssen ihre arbeitslose Jugend nicht mehr wegziehen lassen, weil es zuhause genug zu tun gibt. Polen ist bereits auf Zuwanderung angewiesen.

Politische Sprengkraft

All diese Massnahmen werden aber bei weitem nicht ausreichen, um die demografische Lücke zu füllen. Der Fachkräftemangel nimmt zu und zwingt Unternehmen zur Auslagerung von Produktionseinheiten oder zur Reduktion von Produktionskapazitäten. Beides sind Wachstumsbremsen. Im Kapitalismus ist Wachstum aber untrennbar mit Wohlstand verknüpft. Wächst eine Volkswirtschaft nicht mehr oder schrumpft sie gar, resultieren Wohlstandsverluste, die ihrerseits weitere Wohlstandsverluste erzeugen. Die Verarmung der Unterschichten in Europa  droht sich weit in die Mittelschichten hinein auszudehnen und erzeugt beziehungsweise verstärkt Abstiegsängste. Die politische Sprengkraft dieser Entwicklung ist offenkundig.

Offenkundig ist aber auch die politische Sprengkraft der einzig verbleibenden wirksamen Methode gegen den Fachkräftemangel – der Zuwanderung aus aussereuropäischen Ländern. Sie ist jetzt schon weitherum unbeliebt und verschafft den nationalistisch-konservativen Kräften wachsenden Zuspruch. Da und dort bilden sie schon die Regierung oder sind auf dem Sprung an die Macht.

Die Zwickmühle ist klar erkennbar: Wer Zuwanderung bremst oder verhindert, bewirkt Wohlstandsverluste und unabsehbare politische Flurschäden. Wer Zuwanderung zulässt oder gar fördert, stärkt ungewollt antidemokratische, antieuropäische und illiberale Kräfte, die – einmal an die Macht gelangt - unzimperlich umgehen mit dem Rechtsstaat, der Gewaltenteilung und der Medienfreiheit.

Was tun?

Die Wahlerfolge der Nationalkonservativen gründen zu einem erheblichen Teil in den sozialen Verhältnissen der Unter- und Mittelschichten. Diese haben sich in den 30 Jahren neoliberaler Umverteilungspolitik von unten nach oben teilweise dramatisch verschlechtert. Ausgepowerte Menschen ohne Perspektiven und Menschen mit Verlustängsten sind anfällig für den Sündenbock, den ihnen die Rechtsaussenparteien offerieren: Ausländer! Also muss der Hebel hier angesetzt werden.

Man muss die sozioökonomischen und sozialpsychologischen Bedingungen grundlegend ändern. Das Prekariat muss verschwinden, und die Mittelklasse darf nicht länger auf dem Altar der Konzerne und immer reicheren Oberschicht geopfert werden. Nur ein radikaler Kurswechsel, der die krass gewordenen sozialen Ungleichheiten beseitigt, wird die Wählerbasis der Nationalkonservativen schmälern und die Chancen für eine neue Zuwanderungspolitik erhöhen. Zuwanderung kann dann auch im öffentlichen politischen Diskurs besser rehabilitiert werden. Ihr fundamental wichtiger Beitrag zur Sicherung des Wohlstandes gehört ins Zentrum gerückt wie das kürzlich eine – typischerweise weitherum unbeachtete - Studie der Hochschule St. Gallen gemacht hat. Was uns Sorgen machen muss, ist nicht die von rechts herbeiphantasierte 12-Millionen-Schweiz. Was uns Sorgen machen muss, ist die Schrumpfung der werktätigen Bevölkerung, die ihrerseits unseren Wohlstand weiter gefährdet. Das ist das Problem und das muss verhindert werden. Durch Zuwanderung.

Arbeitsmigration statt Asyl

Die EU und die Schweiz müssen ihr heillos überfordertes Asylsystem auf seinen eigentlichen Zweck zurückführen, indem sie den Armutsflüchtlingen aus dem Süden einen anderen Weg zu unseren Arbeitsplätzen eröffnen, einen legalen. Diese Arbeitsmigration kann nach dem Muster des bereits existierenden Kontingentsystems multilateral oder bilateral geregelt werden. Die europäischen Einwanderungsländer (inklusive Schweiz) vereinbaren mit den Herkunftsländern die jährliche Zuwanderung einer bestimmten Anzahl junger Frauen und Männer, die regelmässig angepasst wird. Die Abwicklung der Einwanderungsanträge erfolgt in den europäischen Botschaften in den Herkunftsländern. Die Vertragsstaaten des Südens verpflichten sich, alle nicht auf diesem legalen Weg nach Europa gelangten und abgewiesenen Personen zurückzunehmen.

Diese aus Gründen der Wohlstandserhaltung notwendige Arbeitsmigration wird allerdings nicht mehr zum Nulltarif zu haben sein, wie die im Rahmen der Personenfreizügigkeit erfolgte Einwanderung von bereits gut bis sehr gut ausgebildeten Fachkräften aus EU-Mitgliedsländern. Die Ausbildungskosten werden wir in Zukunft selber tragen müssen, denn die aus dem Süden einwandernden Menschen werden nicht die hier erforderlichen beruflichen Qualifikationen haben. Sie müssen diese zuerst bei uns erwerben können – wie der hier geborene Nachwuchs auch.