Medienmitteilung

Vom «unsterblichen Denkmal» Neutralität zu einer neuen Sicherheitspolitik für die Schweiz

von SGA ASPE | April 2024
Medienmitteilung der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA-ASPE) zu drei neuen Studien über Neutralität und neue Sicherheitspolitik

Die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) publiziert heute drei Grundlagentexte über «Die schweizerische Neutralität – das unsterbliche Denkmal» und über «Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken – aber wie?». Sie will damit die seit dem Krieg in der Ukraine zu eng geführten Diskussionen mit neuen Denkansätzen anreichern. Sicherheit beinhaltet viel mehr als nur Landesverteidigung und Armee, lautet eine der zentralen Botschaften. Und: Neutralität verliert, wenn sie nur noch von uns und nicht auch von den anderen als Trumpf angesehen wird.

Die Journalistin und Autorin Joëlle Kuntz zeichnet die bald 500 Jahre alte Geschichte der Schweizer Neutralität nach – von der ersten Neutralitätserklärung der Tagsatzung nach dem Dreissigjährigen Krieg bis zum Krieg in der Ukraine. Sie hielt allen Wirren, Kriegen und Druckversuchen stand – wenn auch «mal mehr und mal weniger sichtbar, je nach Bedarf mehr oder weniger elastisch, doch als Prinzip widersteht sie der zeitlichen Abnutzung, den Veränderungen der internationalen Strukturen und den rationalsten Argumenten über ihre Überholtheit oder potenzielle Gefährlichkeit.» Sie wurde – so die Autorin – zum unverrückbaren Denkmal der Schweiz, zu unserem «Arc de Triomphe, geheim für die einen, bescheiden für die anderen und beleuchtet für die konservativen Nationalisten».

In der aktuellen Diskussion über die Neutralität habe die Vergangenheit ein viel grösseres Gewicht als die Gegenwart und die Zukunft, stellt Joëlle Kuntz ernüchtert fest. Die beiden Autoren Martin Dahinden, ehemaliger Botschafter, und der Historiker Peter Hug wollen die Neutralität zwar nicht der Vergangenheit überlassen, messen ihr aber für Gegenwart und Zukunft eine ganz andere Bedeutung bei.

Hug fordert «Bündnisfreiheit statt Neutralität». Die strikte Anlehnung an das Haager Abkommen von 1907 stuft er als «untragbar gewordenes Sicherheitsrisiko» ein, weil es die Zusammenarbeit mit unseren besten Partnern verunmögliche. Die Schweiz müsse sich nicht ganz lossagen vom Abkommen, aber über seine Anwendung von Fall zu Fall entscheiden, wie es auch andere Länder tun.

Dahinden hält hingegen am Abkommen fest. Die Schweiz solle sich bezüglich Kriegsmateriallieferungen weiterhin ans Prinzip der Gleichbehandlung der am Krieg beteiligten Parteien halten. Mit der Neutralität verbindet er aber – wie auch Hug mit seinem Bekenntnis zur Bündnisfreiheit – die Verpflichtung der Schweiz, sich auch jenseits ihrer Landesgrenzen sicherheitspolitisch zu engagieren.

Gemeint ist damit allerdings nicht der Beitritt zur NATO. Weder brauche die NATO die Schweiz noch hätte diese von der NATO-Mitgliedschaft einen Sicherheitsgewinn zu erwarten. Den Schutz des Bündnisses geniesse die Schweiz aufgrund ihrer geografischen Lage ohnehin. Im Unterschied zu Schweden und Finnland könne sie gerade wegen der Geografie aber auch keinen zusätzlichen Flankenschutz bieten.

Wie der Bundesrat meinen beide Autoren, dass ein direkter Angriff auf die Schweiz mit konventionellen Streitkräften ohnehin ein unrealistisches Szenario sei. Peter Hug fordert sogar eine Abkehr von den Armeekonzepten «Autonomie» und «Interoperabilität». Eine «bedrohungsgerecht» aufgestellte Armee wäre angemessener und erst noch viel kostengünstiger. Es mangle der Armee weniger an Geld als an einer Strategie, formuliert er Klartext und schlägt vor: Bodengestützte Luftabwehr auf kurze Distanz, Fähigkeit zur elektronischen Störung und/oder zum Abschuss von Drohnen aller Art, Lücken schliessen im Assistenzdienst an zivile Behörden und nur Luftpolizei statt Aufbau von Offensivkapazitäten mit dem neuen teuren Kampfflugzeug. Dieses hungere die Armee in jenen Teilen aus, die einen echten Gewinn an Sicherheit brächten. «Besonders grossen Nachholbedarf» ortet Hug im Bereich der Cybersicherheit, rangiere doch die Schweiz im Global Cybersecurity Index der Internationalen Fernmeldeunion ITU auf dem höchst bescheidenen Platz 42, weit abgeschlagen hinter Staaten wie Saudi Arabien, Indien, Kasachstan oder Tansania.

Auch Dahinden sieht hier grossen Nachholbedarf. Die Armee müsse ihre Fähigkeiten stärker auf ein hybrides Konfliktfeld ausrichten mit Formen der Cyberkriegsführung, mit Terrorakten, dem Einsatz von Drohnen oder der militärischen Nutzung von künstlicher Intellligenz.

Für beide Autoren ist Sicherheitspolitik mehr als die Verteidigung des eigenen Territoriums. Die Schweiz müsse sich vermehrt international engagieren, um «nicht als egoistische Trittbrettfahrerin ihre Reputation aufs Spiel zu setzen», so Peter Hug. Aktuell müsste sie mit einem grösseren Engagement für Wiederaufbau und Transition in der Ukraine und den umliegenden Ländern beginnen. Um unsere Sicherheit geht es selbst in entfernteren Regionen wie dem Nahen Osten, in Nordafrika und sogar Afrika südlich der Sahara. Martin Dahinden spricht in diesem Zusammenhang von ungenügend eingesetzter «Soft Power» wie Friedensförderung, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Er sieht hier ein sicherheitspolitisch grosses Potenzial, das stärker genutzt werden sollte.

Peter Hug schlägt schliesslich eine radikale Kehrtwende beim Einsatz der personellen und finanziellen Ressourcen vor: Sie müssten exakt umgekehrt zu heute zugeteilt werden, um grösstmögliche Sicherheit für die Schweiz zu generieren. Die 9,5 Milliarden Franken, die gemäss Finanzplanung für die Armee vorgesehen sind, möchte er auf die Ukraine-Hilfe und die Internationale Hilfe generell umlenken, dafür nur noch 3,4 Milliarden in eine ganz anders als bisher konzipierte Armee stecken, dazu noch knapp eine Milliarde für weitere sicherheitspolitisch relevante Bereiche vorsehen.

Über die Gewichtsverteilung in der Sicherheitspolitik kann unabhängig von der Frage Neutralität oder Bündnisfreiheit entschieden werden. Doch die Glaubwürdigkeit der Neutralität im Ausland hängt zweifellos davon ab, wie die Schweiz über ihre Landesgrenzen hinaus gestaltend mitwirkt. Schon 1848 hätten sich Parlamentarier eine Situation vorstellen können, in der die Schweiz um ihrer Sicherheit willen ihre Neutralität vielleicht einmal aufgeben müsste, erinnert Joëlle Kuntz in ihrem Essay.  Die Sicherheit der Schweiz hängt weniger von ihrer Neutralität ab als vielmehr davon, wie sie sich jenseits ihrer Grenzen sicherheitspolitisch engagiert.

Die Publikationen

 «Die schweizerische Neutralität – das unsterbliche Denkmal», von Joëlle Kuntz, Journalistin und Autorin, langjährige Kolumnistin von Le Temps 

En Français: https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Kuntz_-Neutralite-Monument-aux-Suisse-jamais-morts.pdf

Auf Deutsch: https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Kuntz_Neutralitaet-das-unsterbliche-Denkmal.pdf

 

«Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken – aber wie?» von Martin Dahinden, alt Botschafter, mit Stationen u.a. Botschafter in den USA, Direktor der DEZA.

Auf Deutsch: https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Dahinden_-Sicherheitspolitik-der-Schweiz-neu-denken.pdf

En Français : https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Dahinden_Repenser-la-politique-de-securite-de-la-Suisse.pdf

 

«Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken – aber wie?» von Peter Hug, Historiker, ehemals Fachsekretär Aussen-, Entwicklungs- und Militärpolitik der Sozialdemokratischen Fraktion in der Bundesversammlung

Auf Deutsch: https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Hug_Sicherheitspolitik-der-Schweiz-neu-denken.pdf

En Français: https://www.sga-aspe.ch/wp-content/uploads/2024/04/Hug_Repenser-la-politique-de-securite-de-la-Suisse.pdf

Die Fachgruppe «Schweizer Aussenpolitik fürs 21. Jahrhundert» der SGA-ASPE hat die Beiträge zu Neutralität und zur Sicherheitspolitik der Schweiz redaktionell begleitet. Ihr gehören an: Hans-Jürg Fehr (Koordinator),Joëlle Kuntz (Publizistin), Markus Mugglin (Journalist und Autor), Matthias Oesch (Professor für Europarecht an der Universität Zürich), Rudolf Wyder (Vizepräsident SGA-ASPE).