Kolumne

Wer den Verhandlungen mit der EU ausweicht, verliert

von Eric Nussbaumer | Juli 2023
Rudolf Strahm hat gerne Schubladen. In jede Schublade passt eine Haltung. Im jüngsten Beitrag hat er die Schubladen umschrieben:  Erstens das nationalkonservative Lager, welches keine neuen bilateralen Verträge will und auch die Zukunftsfähigkeit der bilateralen Lösung verschmäht. Zweitens die skeptischen liberalen und wirtschaftsnahen Gruppen, die er angsterfüllt umschreibt und mit der Mär verbindet, dass die Schweiz in ihren Freihandelsmöglichkeiten mit aussereuropäischen Staaten eingeschränkt würde, wenn sie eine bindende Lösung mit der EU vereinbaren würde. Und drittens schiebt er alle Verhandlungswilligen in die Schulblade der «kosmopolitischen Klasse». Er meint auch mich und blendet dabei aus, dass auch alle (!) Kantone einstimmig wieder verhandeln wollen. Die Konferenz der Kantone kennt das Dossier.

Das EuGH- Gespenst und CETA-Träume
Nicht alles ist falsch, was Rudolf Strahm darlegt, aber seine Darstellung zum EuGH-Gespenst ist nicht richtig. Schon beim nicht weiterverfolgten Rahmenabkommen war dem EuGH kein Durchgriffsrecht auf Lohnschutz oder auf das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht gewährt worden. Mit dem verhandelten Modell von damals war schon klar, dass das Schiedsgericht (vorgeschlagen von Kommissionspräsident Juncker) zu entscheiden hat, dass aber von der Schweiz übernommenes EU-Recht natürlich nicht anders ausgelegt werden könnte, als wie es der EuGH tun würde.

Die schweizerischen Lohnschutzmassnahmen wären völkerrechtlich abgesichert gewesen. Wir scheiterten an technischen Streitigkeiten wie Voranmeldefrist, selbstbestimmter Kontrolldichte und der verbindlichen Zusage der sozialpartnerschaftlicher Umsetzung. Aber die Fragen wären lösbar gewesen. Der Kenner der Materie weiss auch, dass bereits damals über eine Non-Regression-Klausel gesprochen wurde. Aber die Skeptiker wollten das Tutti: Den Ausschluss des Freizügigkeitsabkommens aus dem dynamischen Rechtsentwicklungsprozess. Sie haben es nicht bekommen und werden es auch nicht bekommen.

Inzwischen hat sich die Situation für die Lohnabhängigen weiter verbessert. Während im Rahmenabkommen die revidierte Entsenderichtlinie noch in der politischen Bereinigung war, musste sie in der Folge bis am 30. Juli 2020 in nationales Recht umgesetzt werden. Es ist nun ohne Zweifel europäisches Recht, dass der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort in jedem Mitgliedsstaat umgesetzt werden muss. Die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sind europarechtlich inzwischen fair geregelt. Man findet denn auch keine Stellungnahme des Europäischen Gewerkschaftsbundes, welche das geschaffene Entsenderecht noch anzweifelt. Nur müsste sich die Schweiz dazu verpflichten, diese revidierte sozialer abgestützte Entsenderichtlinie zu übernehmen. Das gelingt uns nicht. Inzwischen wird vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund gar gefordert, die Schweiz solle noch mehr sozialpolitische Entwicklungen der EU übernehmen, zum Beispiel. die Mindestlohnrichtlinie. Die skeptischen Liberalen mögen das aber gar nicht, was auch Rudolf Strahm genau gleich einschätzt. Darum sollte er ihnen auch nicht so viel Raum geben.

Bei den Themen der «Einbürgerung» und dem «Ausländerzugang zur Sozialhilfe» macht Rudolf Strahm seit Jahren Stimmung. Fakt ist, dass beim Rahmenabkommen tatsächlich die sachgerechte Teilübernahme der Freizügigkeitsrichtlinie nicht geklärt war und man sie auch nicht klären wollte. Inzwischen sind diese Fragen zuoberst auf der Liste der Sondierungsgespräche. In Bern sagt man mir, es seien gute Klärungen erfolgt, die man nun in die Verhandlungen überführen könne.

Anstatt mit der Aussicht auf ein Ergebnis neu zu verhandeln, schlägt Rudolf Strahm ein CETA-ähnliches Vertragswerk vor (CETA: Freihandelsabkommen EU-Kanada). Dass er  dieses Vertragswerk zitiert, kann ich nur so verstehen, dass er das Freizügigkeitsabkommen am liebsten weghaben möchte. Die CETA-Regeln zur Arbeitnehmerinnenmobilität kennen nämlich weniger Schutzmechanismen für Arbeitskräfte als das EU-Recht. CETA eröffnet auch keinen Zugang zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht. Das kann man nicht ernsthaft als Plan B in die Runde werfen, wenn man die soziale Dimension ins Zentrum der europäischen Integration rücken will.


Führung wäre gefragt
Ich stimme Rudolf Strahm zu, dass das Dossier nicht mit bundesrätlichem Leadership erfüllt ist. Zögerlichkeit, Unkenntnis, Personalwechsel – alles kommt zusammen und richtet Jahr für Jahr mehr Schaden an. Seit 2013 ist das unverändert und das ist schlimm. Aber das liegt nicht nur am EDA und auch nicht nur am WBFI. Der ganze Bundesrat glaubt wirklich immer noch, er bekomme jede Ausnahme bewilligt, er bekomme jeden Wunsch von der EU erfüllt. Inzwischen hofft man sogar, dass mit Abseitsstehen und Nichtverhandeln etwas für die Schweiz herauszuholen sei. Der Bundesrat irrt, so gut kenne ich die Brüsseler Verhandlungsequipe.

Ich halte es mit den Kantonen, die deutlich gemacht haben, man müsse jetzt über die Sondierungen hinauskommen. Der Schaden ist schleichend und er wird mit jedem Wartemonat grösser. Man kann ihn nur abwenden, wenn man an den Verhandlungstisch zurückkehrt und um Kompromisse ringt.

Das Primat der Exekutive ist in der Europapolitik verlorengegangen. Das macht unser Land als Wirtschafts- und Forschungsstandort heute so verletzlich. Noch ist es nicht zu spät, wenn man sich der europäischen Realität stellt. Wer aber wartet, wird verlieren.

PS:  Soeben wurde angekündigt, dass Grossbritannien in den nächsten Tagen die Assoziierung am weltgrössten Forschungsprogramm Horizon Europe unterzeichnen wird. Auch hier wird deutlich: Unser Warten wird unseren Top-Hochschulen schaden.