Lesetipp

1990 – als sich die Geschichte beschleunigte

von Christoph Wehrli | Februar 2021
Ein neuer Band «Diplomatische Dokumente der Schweiz» (DDS) gibt Einblick in das aussenpolitisch dichte Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer. Wichtige Themen waren das EWR-Projekt, die Flexibilisierung der Neutralität, Welthandelsfragen und die Vorbereitung des Beitritts zu Weltbank und IWF.

«Der Integrationsprozess in Westeuropa und die Umwälzungen im Osten werden auch in der Schweiz den Gang der Geschichte beschleunigen.» Was eine interdepartementale Arbeitsgruppe im Januar 1990 in einem Memorandum über den Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen voraussagte, hat sich mindestens vorübergehend bewahrheitet. Die 62 Dokumente zur (sehr weit verstandenen) Aussenpolitik des Jahres 1990, die im jüngsten DDS-Band publiziert worden sind, illustrieren neue Gelegenheiten, Aufgaben und auch Unsicherheiten, die sich aus den veränderten welt- und europapolitischen Konstellationen ergaben. Die Herausgeber unter der Leitung von Sacha Zala machen mit dieser Auswahl und weiteren 1500 digitalisierten Aktenstücken Archivbestände zugänglich, für die gerade die 30jährige Sperrfrist abgelaufen ist. Die bisherige, in der Mitte der 1970er Jahre angelangte Reihe der Edition wird parallel zur neuen Serie fortgeführt.

Enttäuschungen beim EWR
Von besonderem aktuellem Interesse ist die Position des Bundesrats zur Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), die 1990 Gegenstand exploratorischer Gespräche und dann eigentlicher Verhandlungen zwischen den EFTA-Staaten und der damaligen Europäischen Gemeinschaft war. Brüssel hatte diese Ausdehnung des Binnenmarkts vorgeschlagen und so nicht zuletzt die Aufnahme neuer Vollmitglieder hinausschieben wollen. Nach der Wende vom November 1989 gab es indes speziell für die Zurückhaltung bei der Aufnahme von neutralen Staaten wie Österreich weniger Gründe. Im Januar 1990 nahm Kommissionspräsident Jacques Delors jedenfalls ein Angebot zurück, das er ein Jahr vorher überraschend gemacht hatte, nämlich «gemeinsame Entscheidungs- und Verwaltungsorgane» der EWR-Partner.

Delors habe «die EFTA-Länder an der Nase herumgeführt», konstatierte Bundespräsident Arnold Koller an einer Klausursitzung im Februar; dennoch sei der EWR für die Schweiz eine integrationspolitische Chance, ein Mittelweg als «einzige realistische Möglichkeit». Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz hielt die Mitbestimmungsfrage und manches andere noch für offen: „Mille hypothèses sont encore réalisables.“ René Felber, Chef des Aussendepartements, deutete bereits an, dass Schweden und in der Folge auch Norwegen und Finnland die „Flucht nach vorn“ (zum EG-Beitritt) antreten und dadurch die Position der EFTA-Staaten schwächen könnten – wie es sich im Herbst klarer abzeichnen sollte. Der Aussenminister wollte stets eine „Satellisierung“ der EG-Nichtmitglieder im EWR vermeiden - und nahm damit ein Schlagwort der Gegner im Abstimmungskampf vorweg.

Bemerkenswerterweise warf gerade der Freisinnige Kaspar Villiger schon im Februar die Frage auf, ob der EWR nicht besser als Zwischenziel und der EG-Beitritt als Fernziel der Schweiz ins Auge zu fassen wäre. Für den Sozialdemokraten Felber, der „persönlich“ den Beitritt „ohne Wenn und Aber“ befürwortete, stand dieser im Oktober als „Finalität“ des EWR ausser Zweifel. Delamuraz hielt noch im November fest, trotz Zügen eines „traité-antichambre“ präjudiziere der Vertrag nichts. Besonders mit nachträglichen agrarpolitischen Forderungen verärgerte die EG allerdings den Bundesrat: „Unerträglich“ fand Villiger die Behandlung der Schweiz. Zudem wuchsen die Spannungen mit den EFTA-Partnern, doch auch eine Isolation von diesen wollte man in Bern unbedingt vermeiden.

Die mehrfachen Enttäuschungen lassen es fast ein wenig erstaunlich erscheinen, dass das spätere Verhandlungsresultat, das die Schweizer Regierung auch mangels Alternativen akzeptierte, in der Abstimmung vom 6. Dezember 1992 das Volksmehr beinahe erreicht hätte.

Kein Sonderfall punkto Verantwortung
In der Sicherheitspolitik galt es vermehrt in unterschiedlichen Szenarien zu denken; zugleich sollte der geplante Kauf neuer Kampfflugzeuge möglichst zwingend begründet werden. Die Regierung war etwas unschlüssig und verschob den Rüstungsentscheid, bis ein konzeptioneller Bericht vorlag. Eine gewisse Öffnung vollzog sich gegenüber der Uno, vier Jahre nach dem klaren Nein zur Mitgliedschaft. Kurz nachdem Anfang August der Irak Kuwait erobert und praktisch die ganze Staatenwelt gegen sich aufgebracht hatte, beschloss der Bundesrat an zwei Telefonkonferenzen während der Ferien, fast simultan mit dem Sicherheitsrat, Wirtschaftssanktionen zu ergreifen. Dadurch wurde der rechtliche, militärische Kern der Neutralität zwar nicht berührt, aber ein Schritt in Richtung verbindlicherer internationaler Kooperation oder Solidarität vollzogen. Das Wort „Sonderfall“ gehöre aus dem Vokabular entfernt, wenn es um die Verantwortlichkeiten in Europa und der Welt gehe, sagte Felber an der Botschafterkonferenz.

Auf die Probleme der mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Zerfall des sowjetischen Blocks wurde rasch mit einem ersten Kredit für Unterstüzungsmassnahmen reagiert. Die bisherige Entwicklungszusammenarbeit sollte darunter nicht leiden. Mittragen und mitreden wollte die Schweiz neu in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds. Der Grundsatzbeschluss war früher gefallen. Doch die Aussicht auf weitere neue Mitglieder (aus Ostmitteleuropa und später aus der aufgelösten Sowjetunion) erleichterte es der Schweiz, zu einem Sitz in den beiden Verwaltungsräten zu gelangen. Auf seiner Werbetour bekräftigte Bundesrat Otto Stich gerade auch in den USA, wo es Widerstand gab, diese Forderung ausdrücklich als Bedingung „sine qua non“. In die intensiver gepflegte Besuchsdiplomatie war nicht zuletzt das wirtschaftlich vielversprechende Lateinamerika einbezogen. In mehreren Staaten, hielt ein Handelsdelegierter nach einer längeren Reise fest, sei man sich der Unausweichlichkeit von Öffnung und Liberalisierung bewusst – ein Aufbruch, der sich wie andere als nicht unumkehrbar erwiesen hat.

Das in den Dokumenten repräsentierte Themenspektrum reicht im Weiteren vom Gatt und der Landwirtschaft über Migration und Asyl bis zum Klima und auch zur Infrastruktur der Diplomatie – ein Viertel der Aussenvertretungen verfügte noch über kein Faxgerät. Der Band ist einerseits dank unzähligen Verweisen ein komfortables Arbeitsinstrument, bietet anderseits auch eine instruktive Lektüre.

Diplomatische Dokumente der Schweiz, Band 1990. Forschungsleiter: Sach Zala, Redaktionsleiter: Thomas Bürgisser. Bern 2021. 284 S., Fr. 12.- (brosch.) / Fr. 41.- (geb.), Gratis-Download und Bestellung: dodis.ch/DDS-1990.