Lesetipp

26 globale Entwicklungen: hinschauen!

von Rudolf Wyder | Mai 2023
Herausforderungen zu ignorieren ist problematisch. An überholten Szenarien festzuhalten ist keine Option. So die Herausgeberschaft der neuesten foraus-Publikation. Trivial? Nicht, wenn der politische Diskurs genau daran krankt!

Ein sechsköpfiges Herausgeberteam und ein Kollektiv von Autorinnen und Autoren aus den Reihen des Thinktanks foraus (Forum Aussenpolitik) haben ein konzises Sammelwerk zu aktuellen Herausforderungen für die schweizerische Aussenpolitik erarbeitet. Das knapp 160-seitige Werk ist soeben im NZZ-Verlag erschienen unter dem Titel «Hinausschauen». Es ist die eindringliche Einladung, den Blick auf die in rapidem Wandel begriffene Aussenwelt zu richten statt Nabelschau zu pflegen.

Die 26 jungen Autorinnen und Autoren beleuchten in ebenso vielen kurzen Kapiteln globale Entwicklungen und deren Implikationen für die schweizerische Aussenpolitik. Gegliedert wird der vielfältige Stoff in sechs Themengruppen: Stabil geglaubte Ordnungen (wie OSZE, UNO, Grundrechtegarantien, Rüstungskontrolle) sind in Fluss geraten. Globale Kooperation versagt häufig (etwa im Umgang mit Migration, Klima, Ernährung, Pandemien). Eine neue multipolare Realität macht sich zunehmend bemerkbar (wie die unterschiedlichen Reaktionen auf den russischen Angriff auf die Ukraine zeigen). Globalisierung wird teilweise abgelöst durch Entflechtung und regionale Neuflechtung (decoupling, derisking, reshoring, Fragmentierung des Internets sind einige Stichworte). Staaten versuchen ihre Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen (etwa im Bereich Sicherheit oder in Form nationaler Industriepolitik). Neue Konflikt-Arenen werden relevant (so im Cyber- und Weltraum).

Die einzelnen Kapitel (davon sieben in französischer Sprache) sind nach einem einheitlichen Muster gearbeitet: Auf die Benennung und Einordnung der jeweiligen globalen Entwicklung folgt eine Analyse der Bedeutung des Themas für die Schweiz (aktuelle Position, Interessenlage, Potential, Herausforderungen). Dies mündet in Fragen, die sich daraus für die künftige schweizerische Aussenpolitik ergeben. Was nicht geboten wird, sind Szenarien und Handlungsoptionen. Doch das ist kein Versäumnis, sondern wohl kluge Zurückhaltung. Denn wer von der Diagnose gleich zur Therapie schreitet, provoziert das Sperrfeuer der üblichen Killerargumente (nicht machbar! nicht finanzierbar! nicht mehrheitsfähig!) – mit dem Ergebnis, dass nicht nur Lösungswege versperrt sind, sondern auch der unvoreingenommene Blick auf eine Herausforderung vernebelt ist.

Richtige Fragen zu stellen, ist nicht wenig. Und das leistet das Büchlein. Doch dabei darf man es nicht bewenden lassen. Die Schrift soll nicht ein Finale, sondern muss eine Ouvertüre sein. Als nächstes muss die Diskussion über die hier präsentierten Fragen geführt werden!

Die zusammengetragenen Beiträge sind, das sei konzediert, von unterschiedlicher Qualität. Aber alle legen den Finger auf bekannte oder verkannte, vieldiskutierte oder verdrängte Herausforderungen und stellen pertinente Fragen.

Problematischer ist, dass die aufgegriffenen Themen von unterschiedlichem Gewicht sind. Dadurch drohen die Relationen verloren zu gehen. Grundlegendes steht, scheinbar gleichrangig, neben eher Marginalem, und es fehlt an strategischer Einordnung, Gewichtung und Priorisierung. Dem kann der Leser und die Leserin freilich abhelfen (dieser Hinweis sei dem Schreibenden zugestanden!), wenn er bzw. sie bei der Lektüre den im Auftrag der SGA erarbeiteten roten Band «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» danebenlegt. Das foraus-Mosaik einzelner Herausforderungen und der strategische Leitfaden der SGA ergänzen sich trefflich!

Zu den Meriten der neuen foraus-Publikation zählt, dass die jungen Fachleute Themen und Fragen zur Debatte stellen, die vom Radar traditionell verstandener Aussenpolitik oft nicht erfasst werden, etwa der Umgang mit Techkonzernen, die Zukunft des Internets, die Genderfrage oder das immer vitalere Wassermanagement. Andererseits kommen gewichtige Probleme, vor denen die schweizerische Aussenpolitik aktuell steht, zu kurz. Dies gilt etwa – und das erstaunt – für das Herausfallen der Schweiz aus der europäischen Forschungszusammenarbeit mit ihren dramatischen Konsequenzen für den Forschungsstandort Schweiz und für die Innovationsfähigkeit des Landes und seiner Wirtschaft. Und es gilt für die Risken, die mit Inkongruenzen zwischen der Schweiz und der EU in der Datenschutzgesetzgebung oder in Regulierungen im Bereich Künstliche Intelligenz verbunden sind.

Dennoch bietet der schmale Band einen hohen Mehrwert, indem er Themen setzt für Diskussionen, die zu führen dringend ist. Denn dem Herausgeberteam kann man nur zustimmen: «Die beschriebenen globalen Entwicklungen finden unabhängig davon statt, ob die Schweizer Aussenpolitik diese früh- oder rechtzeitig oder gar nicht erkennt. Diese jedoch vorausschauend zu beobachten und einzuordnen, ist die logische Anforderung, wenn die Schweiz nicht nur reagieren, sondern auch agieren und gestalten will.»

Anna Stünzi/Anna-Lina Müller/Markus Herrmann/Benno Zogg/Aurèle Cotton/Ueli Staeger (Hrsg.), Hinausschauen, 26 globale Entwicklungen und die Schweiz, Jeter un regard vers l’extérieur: 26 défis globaux et la Suisse, NZZ Libro, 2023. CHF 29.00.