Editorial

Neutralität und Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand

von Roland Fischer, Präsident SGA-ASPE | April 2024
Vor etwas mehr als zwei Jahren hat Russland die Ukraine überfallen mit dem Ziel, sie zu vernichten. Der völkerrechtswidrige Angriff, der auch als Angriff auf den Westen und unsere demokratische, rechtsstaatliche und freiheitliche Ordnung verstanden werden kann, hat unter anderem dazu geführt, dass in kürzester Zeit Finnland und Schweden der NATO beigetreten sind. Es ist offensichtlich, dass diese beiden Staaten ihre eigene Sicherheit nicht mehr mit der Neutralität oder Bündnisfreiheit, sondern als Mitglied des NATO-Verteidigungsbündnisses besser gewährleistet sehen. Angesichts der geografischen Nähe der beiden Staaten zu Russland ist dieser Schritt nachvollziehbar. Anders verhalten sich Österreich und die Schweiz: beide bekräftigen, an der Neutralität festzuhalten. Doch auch für sie stellt sich im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld unweigerlich die Frage, ob Neutralität und Bündnisfreiheit ihre Sicherheit noch genügend gut gewährleisten können.

In der Schweiz kann die teilweise apodiktische Beteuerung der Neutralität nicht darüber hinwegtäuschen, dass unser Land seine Rolle in der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur immer noch sucht. Die Orientierungslosigkeit zeigt sich beispielhaft in der Frage der Wiederausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial in die Ukraine. Das Parlament dürfte frühestens im laufenden Jahr in der Lage sein, eine mehrheitsfähige Gesetzesänderung zu zimmern. Der Bundesrat lehnt das Anliegen sogar grundsätzlich ab, mit dem Verweis auf eine angebliche Unvereinbarkeit mit der Neutralität.

Die Schweizer Neutralität hat sich im Verlauf der Geschichte herausgebildet und sich laufend verändert. Ein wichtiger Zeitpunkt war der Wiener Kongress 1815, der nach der Niederlage Napoleons die politische Landkarte Europas neu ordnete. Die Schweiz erlangte die dauerhafte und bewaffnete Neutralität, und ihr Territorium wurde in den heute noch geltenden Grenzen abgesteckt. Seither entwickelte sich die Neutralität nicht nur zu einem beständigen aussenpolitischen Instrument, sondern immer mehr auch zu einem identitätsstiftenden Element der Schweiz; oder, wie es die Journalistin Joëlle Kuntz in ihrem neuen Beitrag auf der SGA-ASPE Online Plattform «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» ausdrückt, zu einem «unsterblichen Denkmal». Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die Erfahrungen aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, wo die Schweiz vor Angriffen der Kriegsparteien verschont blieb.

Nach dem Ende des kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks hat sich jedoch die sicherheitspolitische Lage der Schweiz grundlegendend geändert. Zusammen mit Österreich ist sie heute von NATO-Staaten umgeben und profitiert massgeblich von deren Schutz, ohne Mitglied zu sein. Zudem hat sich Europa dank der EU zu einer Staatengemeinschaft entwickelt, in welcher grundlegende Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte im Zentrum stehen. Die klassische Sicherheitsfunktion der Neutralität, in einem Umfeld von sich bekriegenden, autoritär regierten Staaten möglichst nicht in Konflikte hereingezogen zu werden, ist obsolet geworden. Die Schweiz bildet heute mit ihren europäischen Nachbarstaaten eine Schicksalsgemeinschaft. Sie ist keine Insel irgendwo im Atlantik, sondern sie gehört zu Europa, ohne Wenn und Aber. Und das ist gut so.

Der Angriff auf die Ukraine führte diese Einbettung der Schweiz in Europa eindrücklich vor Augen, zum Beispiel bei der Übernahme der Sanktionen der EU gegen Russland. Die Schweiz gehört zu denjenigen Staaten, die wirtschaftlich am meisten vom Europäischen Binnenmarkt profitieren, obwohl sie nur partiell in diesen integriert ist. Die Schweizer Volkswirtschaft ist gleichwohl dermassen stark mit dem EU-Binnenmarkt verflochten, dass eine Nichtübernahme der Sanktionen für die EU kaum akzeptabel gewesen wäre. Die Schweiz wäre zu einem für die EU nicht tolerierbaren Hort für Umgehungsgeschäfte geworden.

Hinzu kommt, dass heutzutage kleinere Staaten aufgrund der technologischen Entwicklungen kaum mehr in der Lage sind, sich autonom militärisch zu verteidigen. Es fehlt die für den Einsatz von verschiedenen modernen Waffensystemen notwendige räumliche Ausdehnung, insbesondere was die Früherkennung und Alarmierung betrifft. Schliesslich ist eine autonome Verteidigung inmitten von Staaten, die unsere Grundwerte teilen, ineffizient. Aufgrund der geografischen Lage der Schweiz bietet es sich geradezu an, die Verteidigung gemeinsam mit unseren Nachbarstaaten zu organisieren. Aufgrund von Skalenerträgen ist der gemeinsame Kauf und Einsatz von modernen Waffensystemen auch deutlich kostengünstiger als eine nur annähernd gleichwertige autonome Verteidigung. Es ist deshalb folgerichtig, dass der Bundesrat eine engere Kooperation mit der NATO anstrebt.

Durch die Interoperabilität von Systemen und die Teilnahme an gemeinsamen Übungen will sich die Schweiz in die Lage versetzen, sich notfalls im Verbund mit den NATO-Staaten zu verteidigen. Doch das Konzept hat seine Tücken. Zum einen ist die Kooperation mit der NATO für eine neutrale Schweiz eine äusserst delikate Gratwanderung. Zwar käme eine gemeinsame Verteidigung nur in der Situation eines Angriffs auf die Schweiz zum Tragen, in welcher die Neutralität sowieso keine Rolle mehr spielen würde. Eine möglichst optimale Vorbereitung auf eine solche Situation erfordert jedoch bereits heute die Einbindung der Schweiz in die Kommandostruktur der NATO und die Teilnahme an gemeinsamen Verteidigungsübungen, an Übungen für den Bündnisfall gemäss Artikel 5 des NATO-Vertrags also. Es ist fraglich, ob sich die NATO auf ein solches Konstrukt der einseitigen Solidarität wirklich einlässt. Denn ein Beistand zu Gunsten von NATO-Mitgliedern würde ja die Schweiz aufgrund ihrer Neutralität nicht leisten.

Hinzu kommt, dass die Schweiz offensichtlich nicht bereit ist, im Gleichschritt mit den NATO-Mitgliedstaaten die Verteidigungsausgaben auf mindestens 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Zwar besteht für die Schweiz als Nicht-Mitglied dazu keine Verpflichtung. Dennoch dürfte man von einem Staat, der sich in einem Krieg eine Unterstützung erhofft, zumindest die Bereitschaft erwarten, die eigenen Verteidigungsanstrengungen solidarisch weiterzuentwickeln. Aus finanzpolitischen Gründen peilt die Schweiz jedoch lediglich eine Erhöhung der Militärausgaben auf 1 Prozent an. Und selbst dieses Ziel ist im engen Korsett der Schweizer Schuldenbremse und ohne die Bereitschaft, mit Steuererhöhungen Mehreinnahmen zu generieren, praktisch unerreichbar. Einmal mehr schickt sich die Schweiz also an, eine Trittbrettfahrerin zu werden.

Der Historiker Peter Hug schlägt in seinem Beitrag auf der SGA-Online-Plattform deshalb vor, dass die Schweiz weit mehr als heute in anderer Form wirksame Beiträge für «das globale Gut Sicherheit leistet», zum Beispiel durch eine Stärkung der multilateralen Organisationen wie der UNO und der OSZE, die Friedenförderung, die Stärkung der Menschenrechte und stärkere Anstrengungen für die Zielerreichung der UNO-Agenda 2030.

Doch das eine schliesst das andere nicht aus. Alt-Botschafter Martin Dahinden betont in seinem Artikel, dass in Ergänzung zu einer ausreichenden militärischen Verteidigung die Sicherheitspolitik als umfassendes Risikomanagement aufzufassen sei. Dazu soll die Schweiz ihr grosses Potenzial an Soft Power nutzen, und in erster Linie auf Risiken und deren Ursachen einwirken. Die Schweiz soll ihre bedeutenden Soft Power Ressourcen im Bereich der Friedensförderung, des humanitären Engagement, der Bildung, Forschung und Innovation und weiteren Bereichen konsequent zur Gestaltung ihrer Aussen- und Sicherheitspolitik einsetzen und damit Einfluss ausüben.

Doch auch im Einsatz von Soft Power liegt die Schweiz gegenüber vergleichbaren europäischen Staaten zurück. Das zeigt zum Beispiel ihre vergleichsweise tiefe APD-Quote, welche die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit in Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNI) misst. Sie liegt gemäss vorläufigen Daten der OECD für das Jahr 2023 mit 0,6 Prozent nach wie vor unter dem anzustrebenden Ziel der UNO von 0,7 Prozent. Norwegen, Luxemburg, Schweden, Deutschland und Dänemark übertreffen hingegen dieses Ziel regelmässig.

Im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld führt letztendlich nichts daran vorbei, dass die Schweiz der Sicherheitspolitik in einem umfassenden Sinne eine deutlich grössere Bedeutung zumessen muss. Das ist zwangsläufig mit einem höheren Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen verbunden, sei es für die militärische Verteidigung, aber auch im Bereich der Aussenpolitik und der internationalen Zusammenarbeit. Als Basis für die Zuteilung der Ressourcen benötigt die Schweiz aber zuerst eine kohärente sicherheitspolitische Strategie. Darin ist insbesondere auch ohne Scheuklappen die Frage zu beantworten, mit welchen Instrumenten die Schweiz die Sicherheit ihrer Bevölkerung am besten gewährleisten kann, und inwieweit die Schweiz einen solidarischen, und ihrer Wirtschaftskraft angemessenen Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten kann und will. Auch wenn die Neutralität heute noch als unsterbliches Denkmal gilt, muss auch der NATO-Beitritt eine Option sein.