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7 Fragen an Thomas Greminger

von Isolda Agazzi | Juli 2023
Wie lange noch? Und was dann? Der Krieg in der Ukraine geht in den zweiten Sommer, keine Seite scheint militärisch entscheidend geschwächt. Thomas Greminger war Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), als Russland die Krim annektierte und den schmutzigen Kleinkrieg im Donbass am Leben erhielt, und er ist Leiter des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik, an dessen Ausbildungsprogramme weiterhin russische und ukrainische Vertreter teilnehmen. Das Magazin «global» (Entwicklungshilfe-Plattform «Alliance Sud») hat Greminger gefragt, was «Frieden schaffen» bedeuten könnte.

Sie setzten sich im Rahmen der OSZE stark für Mediation und Friedensförderung ein, insbesondere in der Ukraine, nachdem Russland die Krim annektiert hatte. Ist die russische Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 nicht Beweis dafür, dass diese Bemühungen gescheitert sind?

In den Jahren 2014 und 2015 gelang es uns, eine Eskalation der Krise in der Ukraine zu verhindern; der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und die diesem zugrunde liegenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen konnten jedoch nie beseitigt werden. Der Westen betonte stets, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis sei, das kein Interesse an einem Angriff habe, und dass sich ihr viele Länder deshalb anschliessen wollten, weil sie Moskau fürchteten. Doch hat der Westen nicht erkannt, dass Russland legitime Sicherheitsbedenken und ein uraltes Bedrohungsempfinden gegenüber dem Westen hegte, das seine Wurzeln in der Zeit Napoleons und Hitlerdeutschlands hat. Putin nutzte all dies zwar aus, um eine revanchistische Agenda zu verfolgen, doch Russlands Sicherheitsempfinden ist als legitim anzuerkennen. Letztlich muss man eingestehen, dass keine internationale Organisation in der Lage ist, eine Grossmacht vom Krieg abzuhalten – weder die UNO noch die OSZE.

Ist unter den gegenwärtigen Umständen ein Friedensschluss denkbar? Und wenn ja, hiesse das, 20% des ukrainischen Territoriums würden an Russland abgetreten?

Es machen sich jetzt Stimmen bemerkbar, die einen Plan B fordern. Plan A besteht darin, die Ukraine auf dem Schlachtfeld zu unterstützen, solange sie über Kampfeswillen verfügt. Gegenwärtig herrscht die Meinung vor, dass das Ergebnis der Frühjahrsoffensive auf beiden Seiten abgewartet werden sollte und danach eine Rückkehr an den Verhandlungstisch möglich sein könnte, um einen Waffenstillstand und vielleicht sogar ein Friedensabkommen auszuhandeln. Aufgrund einer Reihe von Problemen, angefangen bei den territorialen Fragen, bei denen keine der beiden Seiten zu Kompromissen bereit ist, wäre dies eine echte Herausforderung. Höchstwahrscheinlich würde sich keine der beiden Positionen durchsetzen, weder jene der Ukraine, die alle seit 2014 besetzten Gebiete befreien will, noch jene Russlands, das all seine annektierten Gebiete konsolidieren will. Wir haben kein Interesse daran, Putin durch die Billigung seiner militärischen Grenzveränderungen zu belohnen, aber wir wollen auch keinen ewigen Krieg. Die Übergangslösung wäre eine vorübergehende Gebietsabtretung, wie sie zwischen Ost- und Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder zwischen den beiden Koreas stattfand. Es geht also nicht um die Abtretung eines Territoriums im engen Sinne des Völkerrechts, sondern um die Vereinbarung einer vorübergehenden Abtretung, die unter einer späteren russischen Regierung neu ausgehandelt werden könnte.

Was würde als Nächstes passieren?

Der zweite Fragenkomplex lautet: Welche Sicherheitsgarantien erhält die Ukraine, damit zukünftige Angriffe durch Russland verhindert werden können? Wird sie NATO-Mitglied oder erklärt sie sich zum neutralen Staat? Die ukrainische Regierung möchte die NATO-Mitgliedschaft, um sich die Garantien gemäss Artikel 5 des Washingtoner Vertrags zu sichern. Politisch scheint dies aber aufgrund des Widerstands gewisser NATO-Mitglieder schwierig zu sein und für Russland wäre ein NATO-Beitritt der Ukraine inakzeptabel. Dann stellt sich die Frage der Wiedergutmachung im Zusammenhang mit der Anpassung der Sanktionen und jene der Kriegsverbrechen. Es gibt vier Themenblöcke, die im Rahmen eines Friedensabkommens behandelt werden müssen.

Im Moment wollen beide Staatschefs den Konflikt auf dem Schlachtfeld austragen. Sie haben keinerlei Interesse, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, weil beide an einen militärischen Erfolg glauben. Sollte die eine oder andere Seite zu einer anderen Auffassung gelangen, könnte sich diese Haltung ändern.

Die berühmten guten Dienste der Schweiz scheinen im vorliegenden Fall inexistent. Sind sie dies tatsächlich, und wenn ja, müssen sie neu erfunden werden?

Die Kriegsparteien bekunden kein Interesse an klassischer Vermittlung und Mediation. Das Vermittlungsangebot der Türkei beruht auf Machtinteressen; das Land nimmt seine Rolle als Regionalmacht wahr und Präsident Erdogan wird Zugang zu den beiden Staatschefs gewährt. Das ist nicht die Art von Vermittlung, wie sie die Schweiz oder Norwegen anbieten könnten, und selbst wenn die Schweiz keine Sanktionen verhängt hätte, wären ihre Dienste nicht beansprucht worden.

Laut Russland haben uns die Sanktionen einen Platz auf der Liste der «unfreundlichen» Staaten eingebracht; der Verfassungsausschuss für Syrien kann nun nicht mehr in Genf tagen. Aber die internationalen Gespräche über Georgien werden in Genf weitergeführt, und Russland beteiligt sich daran. Die Russen sind sehr pragmatisch, sie kommen nach Genf, wenn sie das Gefühl haben, für sie liege etwas drin. Das gilt auch für eine ganze Reihe von informellen Dialogplattformen, die wir vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP) anbieten.

Die Neutralität der Schweiz wird vom Westen immer weniger verstanden. Ist sie überhaupt noch zeitgemäss?

Es stimmt, dass die Neutralität unter Beschuss geraten ist, insbesondere vonseiten der westlichen Länder. Aber aus der Sicht des internationalen Genf wird Neutralität von allen anderen Ländern, einschliesslich der Länder des Globalen Südens, sehr geschätzt, und die westlichen Staaten begrüssen den von uns angebotenen Rahmen für Gespräche über kontroverse Themen wie die Arktis, Syrien oder Atomwaffen. Selbst der Westen hat in einer stark polarisierten Welt ein Interesse an neutralen Staaten, die einen Raum für Dialog und Verhandlungen bieten können. Die Neutralität hat ihre Daseinsberechtigung keineswegs verloren, auch wenn sie unter Druck steht.

Auf der anderen Seite hat sich die Schweiz in aller Deutlichkeit zu den westlichen Werten der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie bekannt. In diesem Sinne unterstreicht sie die Haltung, dass Neutralität keine Frage von Werten ist. Gleichzeitig ist es begrüssenswert, dass sich die Schweiz nicht dem Lager angeschlossen hat, das die Ukraine militärisch unterstützt, was das Gefühl der Unparteilichkeit eines Landes untergraben würde, das so viele internationale Organisationen beherbergt.

Laut dem «Ukraine Support Tracker» unternimmt die Schweiz im internationalen Vergleich nicht viel, um der Ukraine zu helfen. Sollte sie ihr Engagement verstärken und wenn ja, wie?

Mit Blick auf die Gesamtsumme der Unterstützung für die Ukraine scheint die Schweiz in diesem Ranking nicht besonders gut abzuschneiden, da es auch militärische Hilfe (Waffen, Munition) beinhaltet, die äusserst kostspielig ist. Es überrascht daher nicht, dass die Schweiz nur auf Platz 28 landet. Die Situation sieht allerdings viel besser aus, wenn man die Flüchtlingsausgaben (Platz 17) mit einbezieht.

Das verdeutlicht, dass die Schweiz kurz- und mittelfristig unter Druck stehen wird, die mangelnde militärische Unterstützung andernorts auszugleichen. Im Sinne einer Lastenteilung könnten wir uns gezwungen sehen, in anderen Bereichen, wie der humanitären Hilfe und dem Wiederaufbau der Ukraine, einen bedeutenden Beitrag zu leisten. Der Druck auf die Schweiz wird sich erhöhen, noch mehr zu tun, als es heute der Fall ist. Auch wird der Druck zunehmen, andernorts zu sparen; allerdings leiden viele Länder im Süden unter dem Krieg, und es wäre unklug, die Entwicklungszusammenarbeit in anderen Teilen der Welt zurückzufahren. Über den humanitären Bereich hinaus würde dies autoritären Ländern wie Russland und China ermöglichen, ihren Einfluss in den Ländern des Südens auszuweiten.

Soll die Schweiz die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial genehmigen?

Wir täten gut daran, uns auf das zu konzentrieren, was wir richtig machen, so wie oben beschrieben! Die Wiederausfuhr von Waffen wird den Krieg in der Ukraine niemals entscheidend beeinflussen. Als Rechtsstaat sind wir gehalten, geltendes Recht anzuwenden. Wenn das Kriegsmaterialexportgesetz dies verbietet, dürfen wir keinen Re-Export zulassen – es sei denn, das Gesetz wird geändert. Wenn der Wille dafür vorhanden ist, können wir das tun, aber das braucht Zeit. Im Moment ist das geltende Recht anzuwenden.

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Das Geneva Centre for Security Policy (GCSP) ist eine unabhängige Stiftung, der 53 Länder und der Kanton Genf angehören. Sie wurde von der Schweizerischen Eidgenossenschaft gegründet, die 70% des Budgets trägt. Geleitet wird es von Schweizer Karrierediplomaten, zurzeit Botschafter Thomas Greminger. Kernaufgabe des GCSP ist die Weiterbildung von Diplomaten, Beamten und Militärpersonal auf mittlerer Karrierestufe im Sinne der Förderung von Frieden und Stabilität. Das Programm wurde nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs beibehalten, es werden weiterhin Kurse mit russischen und ukrainischen Teilnehmenden durchgeführt. Das GCSP bietet Raum für informellen Dialog und befasst sich mit Fragen, die unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängen sowie indirekt mit Themen, die auf Regierungsebene nicht mehr diskutiert werden, wie die Nuklearwaffen-Dialoge zwischen den USA und Russland.