Editorial

Zwanghafter Exzeptionalismus als Strategie?

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | August 2020
Längst Bekanntes noch und noch erklären (und anhören) zu müssen, ist bemühend. Und doch geht es nicht ohne.

Die Schweiz und die EU haben sich 1999 gegenseitig Personenfreizügigkeit eingeräumt. Staatsangehörige beider Seiten dürfen Arbeitsplatz und Aufenthaltsort frei wählen, sofern sie einen Arbeitsvertrag oder ausreichende Mittel und eine Krankenversicherung haben. Schweizerinnen und Schweizer machen von der Freiheit selber gerne Gebrauch. Personenfreizügigkeit ist eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes, die für die EU ein unauflösliches Ganzes bilden. Das Freizügigkeitsabkommen ist Teil eines Pakets, aus dem nichts herausgebrochen werden kann, ohne dass das Ganze dahinfällt. Unser Land wird nicht von Zuwandernden überrannt, vielmehr holt sich der Schweizer Arbeitsmarkt die Arbeitskräfte, die er wünscht. Migration ist primär konjunkturgetrieben. Einheimische leiden nicht darunter, sondern profitieren von der Liberalisierung. Jeder darf postulieren, was ihm beliebt, aber er soll bitte Fakten Fakten sein lassen!

Gegen Irreführungen und dreiste Falschaussagen immer neu ankämpfen zu müssen, ist ermüdend. Und doch darf es nicht unterbleiben. Die Initiative wolle bloss Verhandlungen, allenfalls «Sistierung», nicht Kündigung der Personenfreizügigkeit? Der Initiativtext widerlegt dies. Die «Guillotineklausel» sei nicht gar so ernst, die EU werde sie aus Eigeninteresse nicht aktivieren? Die Guillotine ist, mit Verlaub, ein Automatismus. Die Bilateralen seien entbehrlich, man habe ja das Freihandelsabkommen vom 1972? Dieses aber gewährleistet weder den hürdenfreien Zugang zum Binnenmarkt noch die Beteiligung an Forschungsprogrammen noch das Zusammenwirken wie aktuell in der Coronabekämpfung. Man möge die Stimmberechtigten bitte nicht für dumm verkaufen!

Europa-Diskurs ohne Orientierung
Aber Obacht! Paradoxerweise droht bei all dem Aufklären und Widerlegen die Orientierung verloren zu gehen. Wer sich ins argumentative Dickicht locken lässt, weiss plötzlich nicht mehr, wo Norden ist. So ist es dem schweizerischen Europa-Diskurs seit 1992 ergangen: Vor lauter Bäumen haben wir den Wald aus den Augen verloren. Gestritten wird verbissen über Teilaspekte und Modalitäten, vergessen gehen die Ziele. Taktik bestimmt die Debatte, eine Strategie hat … ja wer eigentlich?

Personenfreizügigkeit ist nur ein Ausschnitt aus einem grösseren, komplexeren Bild. Dem Tunnelblick entgehen die Zusammenhänge. Alle denkbaren Sorgen auf die Freizügigkeit zurückzuführen, ist unredlich. Migration ist ebenso Begleiterscheinung als auch Treiber der Wirtschaftsentwicklung, Wirkung und Ursache zugleich. Internationale Mobilität ist – Corona hin oder her – ein Korrelat der wirtschaftlichen Verflechtung und der Internationalisierung aller Lebensbereiche. Wollen wir keine Zuwanderung, müssen wir – mit oder ohne Freizügigkeitsabkommen – die Wirtschaft dauerhaft herunterfahren und den Gürtel drastisch enger schnallen.

Die Bedeutung der europäischen Personenfreizügigkeit geht über das Ökonomische weit hinaus. Selber wählen zu können, wo man lebt und arbeitet, ist die menschliche Dimension der friedlichen Vernetzung der Demokratien Europas. Es ist Ausdruck und Vehikel des Zusammenrückens der Völker des Alten Kontinents in einer unsicheren Welt. Es ist ein beträchtlicher Zugewinn an individueller Freiheit – eine Liberalisierung, wie sie sich die Schweizer Kantone im 19. Jahrhundert gegenseitig gewährt haben (übrigens auch nicht ohne Ächzen). Die Personenfreizügigkeit als lästige Konzession an die EU oder als Sachzwang angesichts der drohenden Guillotine hinzustellen, geht am Wesentlichen vorbei. Nein, die Personenfreizügigkeit ist eine bedeutende liberale Errungenschaft und eine unabdingbare Voraussetzung für die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit unseres Landes dazu.

Die illiberalen Initiativen aus der immer selben Küche sind Nachhutgefechte aus einer verflossenen Epoche. Wer will schon unsere eigene Freizügigkeit wieder abgeben? Wer will zurück zu einer planwirtschaftlichen Arbeitsmarktsteuerung? Wer will aus der Schweiz eine Exklave machen innerhalb einer kontinentalen Zone der Freizügigkeit? Wer kann im Ernst unser Land abkoppeln wollen vom Kontinent, in dessen Mitte uns Geographie und Geschichte gestellt haben?

Es geht um den Platz der Schweiz in Europa
Damit sind wir bei der übergeordneten Strategie – beziehungsweise bei deren Fehlen. Wohin soll eigentlich die Reise gehen? Was für ein Europa wünschen wir uns und was können wir dafür tun? Welches soll der Platz der Schweiz sein? Wie können wir unser Verhältnis zur EU nachhaltig gestalten? Welche Option auf der breiten Skala zwischen Schmoller und Zaungast, Partner und Mitverantwortlichem ist der Schweiz angemessen?

Unser Europa-Diskurs ist über die Jahre immer kleinteiliger, kleinmütiger und kleinlicher geworden. Was von einigen als Patriotismus verkauft wird, nimmt sich, aus etwas grösserer Flughöhe betrachtet, als Provinzialismus aus. Wir sollten, meine ich, den zwanghaften Exzeptionalismus, das Anders-sein-Wollen à tout prix nicht bis zur Selbstversenkung treiben. Unsere Eigenart ist nicht bedroht, von Europa schon gar nicht. Es ist an der Zeit, uns von mentalen Blockierungen zu befreien und zu einer strategischen Betrachtungsweise zu finden. In unserem eigenen besten Interesse!