Vier offene Türen der EU und klare Worte zur Schweiz

von Christoph Wehrli | Dezember 2021
In einer Aussenpolitischen Aula in Lausanne hat EU-Botschafter Petros Mavromichalis seine Enttäuschung über den Bundesrat und die Gewerkschaften nicht versteckt. Es sei an der Schweiz, über ihren Weg zu entscheiden. Für die Zukunft des Bilateralismus sollten die betreffenden Probleme aber so bald wie möglich gelöst werden.

Die Fondation Jean Monnet pour l’Europe hat gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik an der Universität Lausanne Gelegenheit geboten, offizielle europäische Stimmen über die Entwicklung der EU und deren Beziehungen zur Schweiz zu vernehmen. Am Ort, wo Monnets Nachlass Kern einer Dokumentations- und Forschungsstelle geworden ist, würdigte der Botschafter der EU in Bern, Petros Mavromichalis, zuerst eine Grundidee dieses Pioniers der Integration: die Fusion und gemeinsame Ausübung von Souveränität. Darauf gab er einen Überblick über die gegenwärtigen Herausforderungen und Grossprojekte der Union: die Bewältigung der Pandemie und das Investitionsprogramm, die klimapolitische und die digitale Transformation, die beide auch die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken und zugleich die soziale Dimension beachten sollen. Eine militärische Supermacht zu werden, sei kein Gründungsziel gewesen; angesichts der Bildung von Blöcken in einer multipolaren Welt erhalte indes die Sicherheitspolitik mehr Gewicht.

Stärker in der Union

In Bern stationierte Diplomaten aus den Benelux-Staaten bekräftigten den Sinn der europäischen Integration aus spezifisch nationaler Sicht, nicht ohne Hinweis auf gewisse Gemeinsamkeiten ihrer Länder mit der Schweiz. Belgien war in zwei Weltkriegen, wie Botschafter Willy De Buck in Erinnerung rief, durch seine Neutralität nicht von der Katastrophe bewahrt worden und wandelte sich in der Folge zu einem «fundamentalen Multilateralisten». Die Umstellung, die mit einer «Mentalitätsrevolution» verbunden war, habe dem Land Stabilität und Prosperität verschafft. Die souveränitätsbewussten Niederlande haben ihrerseits nach den Worten von Botschafterin Hedda Samson als Mitglied der EU an Handlungsfähigkeit gewonnen. Umfragen bestätigen, dass eine grosse Mehrheit der Bevölkerung die Zugehörigkeit unterstützt, wenn auch eher aus Einsicht in die Notwendigkeit denn aus Liebe und keineswegs ohne Kritik. Für Luxemburg wirkt die EU in besonderer Weise als «Multiplikator von Einfluss», wie es Botschafter Jean-Claude Meyer nannte. Er betonte im Weiteren, dass es in dem kleinen Land mit einem Ausländeranteil von fast 50 Prozent und zahlreichen Grenzgängern keine xenophobe Partei gebe; die Löhne seien nach wie vor höher als in den benachbarten Ländern.

Die Schweiz vor der Wahl

Und die Schweiz? Sie habe oder hätte keinen besseren Verbündeten, Freund oder Nachbarn als die EU, hielt deren Vertreter Mavromichalis fest. Grundsätzlich stünden dem Land vier Türen offen: der Beitritt zur Union, der Anschluss an den EWR, eine institutionelle Lösung nach Mass oder ein Freihandelsabkommen wie jenes mit Grossbritannien. Mit den bilateralen Abkommen habe die EU der Schweiz damals den Beitritt erleichtern wollen. Nun, da sie nicht mehr Beitrittskandidatin sein wolle, müssten die sich ergebenden Probleme gelöst werden, und zwar vorzugsweise bald: die dynamische Übernahme von neuem Binnenmarktrecht, die Beilegung von Differenzen und der Beitrag zur Kohäsion. Mavromichalis sprach nicht ausdrücklich vom gescheiterten Abkommensentwurf, brachte aber auch keine andere Form ins Spiel.

Recht unverblümt kommentierte der EU-Vertreter den Verhandlungsabbruch durch den Bundesrat im letzten Mai. Die Schweizer Regierung habe – dies der Eindruck – auf Zeit gespielt und sei von der Notwendigkeit eines Abkommens nicht überzeugt gewesen. «Man kann ein Pferd nicht trinken lassen, wenn es keinen Durst hat.» Schade sei, dass sich das Volk nicht dazu äussern konnte. Nachdem De Buck darauf hingewiesen hatte, dass vor zehn Jahren auf der schweizerischen Seite ein Elan vorhanden gewesen sei, der sich dann verflüchtigt habe, äusserte sich der damalige Chefunterhändler Jacques de Watteville, der als Vizepräsident der Monnet-Stiftung die Diskussion moderierte: Er habe seinerzeit (bis März 2017) in voller Übereinstimmung mit der Mehrheit des Bundesrats gehandelt. Namentlich Didier Burkhalter, Eveline Widmer-Schlumpf und Doris Leuthard seien überzeugte Europäerinnen und Europäer; heute herrsche «eine andere Konstellation». Was die starre Opposition der Gewerkschaften betrifft, so sieht Mavromichalis hinter der Verteidigung der «diskriminierenden sogenannten flankierenden Massnahmen» schlicht das korporatistische Interesse, sich die Einnahmen aus der Kontrolle der Arbeitsbedingungen zu sichern.

Wie geht es nun weiter? Gefragt, ob Bundesrat Ignazio Cassis oder Kommissar Maros Sefcovic das Resultat ihres Gesprächs von Mitte November richtig wiedergebe, sagte der EU-Diplomat, es sei normal, dass jede Seite hervorhebe, was ihr wichtig sei. Geeinigt habe man sich darauf, im Januar in Davos über einen Marschplan («feuille de route» / «roadmap») übereinzukommen. - Allerdings bleibt die erhebliche Differenz, dass Cassis mit eigentlichen Verhandlungen zuwarten möchte, während Sefcovic auf baldige konkrete Schritte drängt. Mavromichalis vermied den Anschein eines Ultimatums: Wenn man sich nicht einige, müsse man sich Zeit zum Nachdenken lassen.