Editorial

Europäische Grundwertesolidarität

von SGA-Präsidentin Gret Haller | Dezember 2014
Die hohe Ablehnung der Ecopop-Initiative mit mehr als 74% lässt die Offenheit der Schweiz wieder in anderem Licht erscheinen. Den Ecopop-Initianten erscheint die Offenheit zu Europa als nebensächliches Thema. Und die Zuwanderungs-Initianten haben nach der Abstimmung im Februar ihre Verwirrtaktik aufgeben. Heute reden Klartext und verlangen die Preisgabe der bilateralen Verträge, damit ihre Initiative wortgetreu umgesetzt werden kann.

Interessant sind hingegen jene, die nach einem Februar-"Ja" im November mit "Nein" gestimmt haben. Sie verlangen mehr flankierende Massnahmen zur Personenfreizügigkeit, zum Beispiel im Bereich von Raumplanung, Wohnungswesen und Verkehr wie auch für die Erwerbsarbeit. Aber die vertraglichen Beziehungen zur EU wollen sie nicht aufs Spiel setzen. Diese Gruppe muss ziemlich gross sein. Immerhin ist die Zustimmungsrate vom Februar bis November auf die Hälfte geschrumpft.

Kürzlich wurde in einem Kommentar auch diesen Leuten vorgeworfen, sie würden die Betroffenheit der Menschen und deren Realität ignorieren. Einer langen Schelte an die Adresse der Ecopop-Gegner folgen Forderungen zu den flankierenden Massnahmen. Aber der Kommentar nimmt auf den europäischen Partner nicht nur keine Rücksicht, sondern dieser wird schon gar nicht erwähnt. Zweifellos müssen flankierende Massnehmen beschlossen werden. Aber die Gruppe der "Umsteiger" vom Feburar-"Ja" zum November-"Nein" setzt dafür europapolitische Randbedingungen.

Reden wir Klartext: Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wurde die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK ausgehandelt und in Kraft gesetzt. Wenig später sicherten sich die sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die gegenseitige Freiheit des Personenverkehrs zu, die Grundlage der Europäischen Union. Personenfreizügigkeit beruht auf dem selben Menschenbild wie die EMRK: Innerhalb einer rechtlich verbundenen Solidargemeinschaft sollen Freiheit und Würde allen Menschen gleichermassen zustehen, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit. Diese Errungenschaften der Fünfziger Jahre dienen dem einen Ziel, übersteigerte nationale Identität zu überwinden und den Nationalismus durch das langsame Entstehen einer europäischen Grundwertesolidarität einzudämmen.

Diese Grundwertesolidarität ist ganz entscheidend. Damit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - wie kürzlich - katastrophale und menschenunwürdige hygienische Verhältnisse in einem belgischen Gefängnis kritisieren kann, brauchen die betroffenen Gefangenen die Solidarität aller Menschen, die sich zu diesen Grundwerten bekennen. Einmal ausgehandelte und festgeschriebene Grundwerte kommen nur dann zum Tragen, wenn sie zu einer gemeinsamen politischen Identität werden. Dies gilt für die Grundrechte genau so wie für den freien Personenverkehr. Wenn junge Spanier nach Deutschland reisen und dort mit polnischen Kollegen und solchen aus der Schweiz zusammenarbeiten, wird genau diese politische Identität praktisch gelebt. Es ist deshalb kein Zufall, dass die selben Kreise, welche mehr Distanz der Schweiz zur EU erzwingen wollen, auch die Kündigung der EMRK verlangen.

Von der Ebene der Grundwertesolidarität zu unterscheiden ist das politische Aushandeln von flankierenden Massnahmen. Seit der November-Abstimmung ist es klar, dass diese Massnahmen die Randbedingungen der europäischen Grundwertesolidarität respektieren werden. Dazu gehört auch der freie Personenverkehr, wie immer dieser in Verhandlungen mit der EU noch ausgestaltet werden wird.

Wem die europäische Grundwertesolidarität gerade so viel wert ist, dass er für den Fall des Nichterreichens seiner Ziele hinsichtlich der flankierenden Massnahmen bereit ist, diese Solidarität kurzerhand aufzukündigen, bewegt sich in seiner Denkrichtung sehr nahe auf die Initianten der Februar-Abstimmung oder auf jene der November-Abstimmung oder auf beide zu. Er begreift nicht, dass Grundwertesolidarität und flankierende Massnahmen verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind. Wer das nicht beachtet, betreibt gewöhnlichen Nationalismus. Nationalismus, wie er uns auch in einigen Mitgliedstaaten der Union entgegentritt, bedeutet nämlich nichts anderes als die Ablehnung der europäischen Grundwertesolidarität.