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Asylpolitik mit Drittstaaten: Möglichkeiten und Illusionen

von Christoph Wehrli | Dezember 2023
Auch nach vielen Jahrzehnten irregulärer Migration ist es den westlichen Zielstaaten nicht gelungen, eine Antwort zu finden, die den Flüchtlingsschutz gewährleistet und zugleich innenpolitisch stabil abgesichert ist. Zur starken Belastung der Aufnahmestrukturen führen lange Verfahren, die mangelhafte Durchsetzung ablehnender Entscheide, aber auch schlicht die hohe Zahl von Schutzbedürftigen. Dabei ist dieses Asylsystem nur auf illegalen Wegen erreichbar, so dass die Migrierenden auf teure Schlepperdienste angewiesen sind und unterwegs oft Misshandlung oder den Tod riskieren.

Die Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten erscheint manchen als grundsätzliche Alternative. Es müsste sich nicht um Transitländer der betroffenen Asylsuchenden handeln. In einer extremen Variante ist es das Ziel, Asylsuchende definitiv fernzuhalten. Die Schweizerische Volkspartei, die eine Drittstaatenlösung fordert, betrachtet Flüchtlinge, die sich nicht mit einer prekären Existenz im ersten Zufluchtsland abfinden, ohnehin als wirtschaftlich motiviert. Andere wollen weniger weit gehen, beispielsweise die  deutsche CDU, die (nur) Personen mit bereits geklärtem Asylanspruch einreisen lassen will. Namentlich der niederländische, in Berlin tätige Sozialwissenschafter Ruud Koopmans («Die Asyl-Lotterie», München 2023) möchte konsequent die irreguläre Migration durch eine reguläre ersetzen. Eine proaktive, gezielte Aufnahme käme jenen zugute, die unter den Millionen von Flüchtlingen den Schutz am meisten benötigen.

Möglichkeiten zur Vorverlagerung von Asylverfahren

Gesuche bei Vertretungen im Ausland. Früher bot die Schweiz die Möglichkeit, ein Asylgesuch bei einer ihrer Aussenvertretungen einzureichen (missverständlich oft «Botschaftsasyl» genannt). Zuerst wurde über die Einreise in die Schweiz entschieden – eher selten positiv, da die meisten Antragstellenden bereits in einem einigermassen sicheren Land waren. Wer in die Schweiz einreisen konnte, erhielt dann relativ oft Asyl. Dieser Weg wurde 2012 verschlossen, da ihn kein anderes Land mehr anbot.

Kontingente aus Erstaufnahmeländern. Die UNO-Flüchtlingsorganisation (UNHCR), die Millionen von Flüchtlingen betreut, sucht laufend Aufnahmeländer für Personen, deren Umsiedlung (Resettlement) aus dem Erstaufnahmeland dringend erscheint. 2022 konnten so rund 55'000 Flüchtlinge in die USA, nach Kanada oder einen anderen Staat ziehen. In die Schweiz sind 2021 gut 1000 und 2022 rund 650 solche Flüchtlinge eingereist, ohne (nochmals) ein volles Asylverfahren durchlaufen zu haben. 2023 wurde das Programm wegen Kapazitätsproblemen der Kantone suspendiert. Der Umfang der irregulären Migration erschwert generell eine grosszügige proaktive Aufnahmepolitik.

Definitive Übergabe an einen Drittstaat. Grossbritannien und Rwanda vereinbarten 2022, dass illegal ins UK gelangte Asylsuchende in den ostafrikanischen Kleinstaat verbracht werden können. Rwanda versprach ein Asylverfahren nach nationalem Recht und internationalen Standards, Bewegungsfreiheit und bei Schutzbedürftigkeit die Aufnahme auf Dauer. Abgewiesene sollten in ein Land ausreisen, wo sie ein Aufenthaltsrecht haben. Als britische Gegenleistung waren eine Entschädigung pro Person sowie ein Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung vorgesehen. Am 15. November erklärte der britische Supreme Court die Regelung für widerrechtlich, da ein reales Risiko bestehe, dass Rwanda das Verbot der Rückschiebung in einen Verfolgerstaat verletze. Die Regierung will das Vorhaben in modifizierter Form weiterverfolgen

Verfahren in einem Drittstaat. Italien und Albanien haben im November 2023 in Aussicht genommen, dass Asylsuchende, die von der italienischen Marine bei der Überfahrt aufgefangen worden sind, das Asylverfahren in zwei geschlossenen Lagern in Albanien durchlaufen. Die Zuständigkeit soll dabei ganz bei Italien liegen. Nach einem positiven Entscheid ist die Einreise nach Italien vorgesehen. Das Vorgehen nach Verneinung der Schutzbedürftigkeit scheint unklar. Albanien geht offenbar davon aus, dass Rom auch die Verantwortung für Rückführungen (via Italien) trägt. Dann wäre allerdings kein wesentlicher Effekt der Auslagerung ersichtlich.

Dänemark strebte eine ähnliche Lösung mit Rwanda an, setzte aber die Verhandlungen aus, um zuerst in der EU für ihr Konzept zu werben.

Australien brachte ab 2002 Asylsuchende, die irregulär vom Meer her einreisen wollten, in geschlossene Lager auf den zwei ausländischen Inseln Nauru (einem souveränen Kleinststaat) und Manus (Papua-Neuguinea). Bis 2008 erhielt die Mehrheit der rund 1600 Internierten schliesslich Asyl in Australien. Später wurde die Aufnahme generell verweigert. In den beiden Lagern kam es zu schweren Missständen, 2008 bzw. 2017 wurden sie geschlossen. Australien hält illegal Eingereiste seit 1992 allgemein in Lagern fest, bis über ihren Status entschieden ist. Zudem versucht die Marine, Schiffe mit Migranten an Bord fernzuhalten. Gleichzeitig nimmt Australien substanzielle Kontingente bereits anerkannter Flüchtlinge auf.

Verwandte Möglichkeiten

Rückführung über einen Drittstaat. Als andere Möglichkeit der Auslagerung wird diskutiert, Asylsuchende nach negativem Entscheid in einen Drittstaat zu bringen - in der Annahme, sie würden von dort eher in ihre Heimat zurückkehren. 2002/2003 handelte die Schweiz mit Senegal eine Transitregelung aus. Abgewiesene westafrikanische Asylsuchende sollten nach Senegal gebracht und maximal 72 Stunden festgehalten werden können, um ihre Nationalität und Identität zu klären. Wegen innenpolitischer Widerstände unterzeichnete Dakar das Abkommen nicht.

Im Juni 2023 unterstützte der Ständerat eine Motion von Ständerat Damian Müller (FDP), wonach der Bundesrat ein Pilotprojekt zur Abschiebung abgewiesener eritreischer Asylsuchender in einen Drittstaat durchführen soll. Der Bundesrat hatte sich aus rechtlichen und praktischen Gründen dagegen ausgesprochen.

Verfahren «an der Grenze».  Vor dem Europäischen Parlament liegt eine Asylreform, die ebenfalls die Abwicklung von Verfahren ausserhalb von Zielländern enthält. Dazu  gehören Verfahrenszentren in der Nähe der EU-Aussengrenze. Dort soll über Gesuche von Personen aus Ländern entschieden werden, wo eher selten eine Gefährdung besteht. Die Asylsuchenden gelten formell als nicht eingereist, befinden sich aber auf dem Territorium der EU. Insofern handelt es sich um keine Auslagerung. In der Schweiz fordert die SVP in ähnlichem Sinn «Transitzonen». Der Nationalrat hat eine entsprechende Motion abgelehnt.

Voraussetzungen

Das Prinzip des Flüchtlingsschutzes könnte an sich gewahrt bleiben, wenn Asylsuchende einem Drittstaat übergeben werden, der die flüchtlings- und menschenrechtlichen Regeln einhält. Dazu müssen auch konkrete Voraussetzungen gegeben sein, wie im Folgenden dargestellt.

Kapazität für Asylverfahren. Die sorgfältige individuelle Prüfung von Asylgesuchen bedingt einen rechtlichen Rahmen mit Rekursmöglichkeit, kompetente Beamte und Richter, Dolmetscher sowie Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung. Der Drittstaat oder (nach dem Italien-Albanien-Modell) der «auslagernde» Staat hat also einen entsprechenden Apparat auf- oder auszubauen. Wichtig wäre auch ein Umfeld mit Anwälten und Hilfsorganisationen.

Kapazität für Rückführungen. Konsequenterweise ist auch an die Rückkehr abgewiesener Asylsuchender in ihre Heimat zu denken. Die Beschaffung von Ausweispapieren und eine möglichst menschenwürdige Rückführung sind anspruchsvoll. Es wird wohl angenommen, dass harte Lebensbedingungen die Betroffenen motivieren, das Drittland ohne zusätzlichen Zwang zu verlassen. Allerdings ist damit zu rechnen, dass Viele erneut versuchen würden, irregulär nach Westeuropa zu gelangen. Internierungen während des Aufenthalts sind mindestens problematisch.

Kapazität für die Aufnahme auf Dauer. Sollen Flüchtlinge, wie es Grossbritannien anstrebt, auch nach einem positiven Entscheid nicht im europäischen Zielstaat aufgenommen werden, so hat der Drittstaat, allenfalls mit Hilfe des Vertragspartners, für soziale Unterstützung und wirtschaftliche Integration zu sorgen.

Interesse der Drittstaaten. Drittstaaten können an der Übernahme von Asylsuchenden interessiert sein, wenn sie über ihren Aufwand hinaus finanziell entschädigt werden. Denkbar sind auch Gegenleistungen in Form von Kontingenten für legale Einwanderung. Im Fall von Rwanda dürfte ein Gewinn an rechtsstaatlicher Respektabilität ein Motiv sein. Auf der anderen Seite wird es in der Regel unpopulär sein, dass die Regierung einem wohlhabenden Staat ein Problem abnimmt und, beispielsweise in Afrika, eine Art «Handel» mit Menschen aus der eigenen Region betreibt.

Für den erwähnten Migrationsforscher Ruud Koopmans kämen, auch gemäss Aussagen in einem Interview, etwa folgende Staaten infrage: Albanien, Nordmazedonien und die Moldau, Tunesien, Senegal, Ghana und Rwanda. Es sind meist kleinere Länder mit hinreichend eigenen Problemen. Tunesien hat inzwischen einen Deal mit der EU abgelehnt, die Moldau beherbergt bereits etwa 100'000 Flüchtlinge aus der Ukraine.

Abschreckende Wirkung. Die Abschiebung aller Asylsuchenden aus einem Zielstaat in ein Drittland ist schwer vorstellbar. Befürworter eines Systemwechsels kalkulieren indes damit, dass sich rasch ein Abschreckungseffekt ergäbe. Die irreguläre Migration würde abnehmen, und so käme es nur in überschaubarem Umfang zu Überstellungen. Koopmans verweist darauf, dass Australien mit seiner sehr harten Politik die unkontrollierte Einwanderung stark reduziert habe. bedenken ist jedoch, dass nationale Massnahmen in Europa oft einfach zur Verlagerung der Migration auf andere Staaten führen. Ein gemeinsames Vorgehen der wichtigsten Asylländer wiederum würde die Kooperation mehrerer Drittländer erfordern.

Folgerungen

Der Einbezug sicherer Drittstaaten ins Asylsystem europäischer Staaten ist denkbar, aber wohl schwer zu realisieren. Die das Verfahren auslagernden Staaten behielten jedenfalls eine Verantwortung: für eine gewisse Kontrolle, für die Abgeltung von Leistungen und für die Aufnahme der ermittelten Schutzbedürftigen oder von Kontingenten.

Das UNHCR fordert, die Verantwortung international zu teilen (share) und nicht abzuschieben (shift). Nahe liegen Möglichkeiten, Länder zu unterstützen, in denen sich bereits zahlreiche Flüchtlinge aus der jeweiligen Region oder irreguläre Migranten auf der Durchreise aufhalten.

Über Erfahrungen verfügt man aus der Zusammenarbeit der EU mit der Türkei. Der 2016 vereinbarte Mechanismus zur Rückschiebung syrischer Asylsuchender aus Griechenland und zur Aufnahme gleich vieler Personen aus der Türkei in die EU spielte zwar bisher nur in begrenztem Mass. Massive Zahlungen (bisher rund 10 Milliarden Euro) helfen der Türkei aber bei der Unterstützung und Integration von mehr als drei Millionen Syrerinnen und Syrern, die im Land behalten werden. Umgekehrt scheint eine mangelhafte Finanzierung der Flüchtlingshilfe in Syriens Nachbarländern 2015 ein Grund für den Massenaufbruch nach Europa gewesen zu sein.

Auch andere Länder wie etwa Marokko oder Tunesien, in denen sich zahlreiche Migranten aus Subsahara-Afrika befinden, bedürfen der Unterstützung. Dabei wäre - man denke an Libyen - auch für einen menschenwürdigen Umgang mit den Migranten zu sorgen, die in einem Transitland festsitzen, weil sie mittellos sind oder an der Ausreise gehindert werden. . Vom UNHCR ausgewählte Flüchtlinge kämen für Kontingente infrage. Vermehrt könnten anderseits Programme zur freiwilligen Rückkehr in die Heimatländer durchgeführt werden.

Die «konventionelle» Asylpolitik gerade der Schweiz «greift» übrigens durchaus. Die Asylsuchenden, die nicht als schutzbedürftig befunden werden, sind seit Jahren klar in der Minderheit. Und die Mehrheit von ihnen verlässt nachweislich das Land wieder.