Kolumne

AVIS28: Switzerland first

von Hans-Jürg Fehr | Juli 2019
Vorerst ist es nur eine „Aussenpolitische Vision 28“. Da sie aber der bisherigen Aussenpolitik unterstellt, dass sie ohne Strategie betrieben worden sei, will sie die Grundlage für eine neue Aussenpolitik der Schweiz legen. Neu heisst: Die wirtschaftlichen Eigeninteressen werden dominant, die in der Bundesverfassung genannten aussenpolitischen Ziele zur Zugabe degradiert.

Die Bundesverfassung zählt die aussenpolitischen Ziele der Schweiz in Artikel 54 auf: Wahrung der Unabhängigkeit und der Wohlfahrt, Linderung von Not und Armut in der Welt, Achtung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie, friedliches Zusammenleben der Völker und Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Das ist eine Mischung von Eigeninteressen und Interessen anderer Völker, wobei die Mehrzahl dieser Ziele ausserhalb der Schweiz verfolgt wird und höchstens in zweiter Linie nationalen Interessen dient. Zentral ist der Gedanke der Solidarität, des internationalen Altruismus – und darum eignet sich Art. 54 nicht als Basis für die nationalistische Intention der „AVIS28“. Stattdessen wird Art. 101 der Verfassung beigezogen, der den Bund verpflichtet, „die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland“ zu wahren. Dieser Schachzug erhöht die Bedeutung der Wirtschaft und führt zur Feststellung: „Aussenpolitik ist auch Aussenwirtschaftspolitik“.

Die Herstellung dieser Bedeutungsgleichheit ist aber nur ein Zwischenschritt, denn die eigentliche Absicht besteht darin, der schweizerischen Wirtschaft die aussenpolitische Priorität einzuräumen. Werte und Interessen seien zwei Seiten einer Medaille, heisst es, wobei die Werte (Art. 54) als Rückseite der Interessen (Art. 101) bezeichnet werden – und genau so ist es gemeint: Sie sind nicht die Vorderseite, sie sind nicht von prioritärer, sondern von nachrangiger Bedeutung.

Selbst die Neutralität wird untergeordnet
Diese Umkehr der aussenpolitischen Prioritäten kommt in der „AVIS28“ immer wieder zum Ausdruck, wenn mehr Engagement für die wirtschaftlichen Eigeninteressen gefordert wird. Selbst die Neutralität wird nicht mehr als jene aussenpolitische Maxime erwähnt, die der Schweiz Schutz und Sicherheit garantiert, sondern als wirtschaftspolitisches Konzept zur Förderung Genfs als Standort internationaler Organisationen.

Wo es in Zukunft lang gehen soll, verrät folgender Satz: Das Engagement für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „darf sich nicht so auswirken, dass Menschenrechte und Wirtschaft zu Gegensätzen werden.“ Das kann ja wohl nur so verstanden werden, dass der Einsatz der Schweiz für die Menschenrechte dann aufhören soll, wenn er den Interessen eines Unternehmens in die Quere kommt. „AVIS28“ delegiert die Zuständigkeit für Menschenrechte und Umweltschutz an die multinationalen Konzerne und behauptet blauäugig, bei denen sei sie gut aufgehoben. Die Schweiz, so heisst es, habe „vielversprechende Ansätze entwickelt, um gemeinsam mit dem Privatsektor Standards für eine Einhaltung und Förderung von Menschenrechten durch Unternehmen zu entwickeln. Sie beruhen auf dem Prinzip der Selberverantwortung.“ Die aussenpolitischen Ziele der Bundesverfassung werden also ausdrücklich hinter die Profitinteressen der Wirtschaft gestellt, die zudem kurzschlussartig gleich gesetzt werden mit den nationalen Interessen. Glencore als Aushängeschild der Schweiz?

Das Autorenteam stellt sich folgerichtig gegen die Konzernverantwortungs-Initiative, die gerade das Gegenteil fordert, nämlich die Unterordnung der Wirtschaft unter die übergeordneten Ziele der Umweltpolitik und der Menschenrechte. Da sieht man deutlich die Handschrift der beiden prominenten Unternehmer im Autorenteam. Vertreterinnen und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen sucht man hier vergebens. Bundesrat Cassis wollte sie offensichtlich nicht dabei haben. Das ist umso unverständlicher als die Entwicklungszusammenarbeit als eine der Säulen der Aussenpolitik wesentlich von NGO geleistet wird.

In den Passagen zur Entwicklungszusammenarbeit zeigt sich der nationalistische und wirtschaftsegoistische Approach der „AVIS28“ besonders deutlich. Der Privatsektor wird zum Hoffnungsträger für eine effiziente Entwicklungspolitik empor gejubelt, Migrationsverhinderung zum strategischen Ziel der EZA erklärt. Beide Positionen sind in dieser prominenten Rollenzuweisung hoch problematisch, aber davon ist in „AVIS28“ nichts zu lesen. Hauptsache „Switzerland first“. Das reiht sich zwar nahtlos ein in den weltweit grassierenden Neo-Nationalismus, aber es ist nicht die Vision, die zur Schweiz passt. Sie mag neu sein, aber richtig ist sie deswegen noch lange nicht.