Tag der Aussenpolitik 2023: Die Rückkehr der Politik in die Weltwirtschaft

von Christoph Wehrli | Juni 2023
Internationale Spannungen und gegensätzliche wirtschaftlich-politische Systeme dämpfen den Welthandel, ohne die Globalisierung umzukehren. Die Schweiz steht namentlich vor der Frage, ob sie wie die grossen Akteure mit einer gezielten Industriepolitik auf das Klimaproblem und auf das Risiko sicherheitsrelevanter Abhängigkeiten reagieren soll. In dieser Situation richtete sich der Blick über den nationalen Tellerrand (und die alten bilateralen Streitfragen) hinaus auf die Perspektiven Europas im veränderten internationalen Umfeld - Perspektiven, die wohl auch für das EU-Nichtmitglied massgebend sind.

Europa: Verminderung von Sicherheitsrisiken

Guntram Wolff, CEO der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ging in seinem Video-Vortrag besonders auf die Veränderungen in der Weltwirtschaft ein. Der internationale Handel wächst seit der Finanzkrise von 2008 nur noch langsam. Eine Deglobalisierung sei zwar nicht eingetreten und wäre auch nicht erwünscht. Doch das staatskapitalistische System von China und dessen Streben nach technologischer Unabhängigkeit erschwerten den Austausch im Rahmen einer Wettbewerbsordnung und riefen nach einer europäischen Antwort. Eine entsprechende Strategie für die wirtschaftliche Sicherheit, die auch die Energiewende einschliesst, wird von der EU-Kommission noch im Juni erwartet.

Wichtig ist für Wolff vorerst eine gemeinsame Beurteilung der Risiken, zumal im Kontext des europäischen Binnenmarkts. Sodann sprach er sich für eine Verminderung der Abhängigkeitsrisiken (de-risking) aus, die sich auf «harte» Sicherheitsfaktoren, also etwa auf den Bereich der Spitzen-Chips, beschränkt. Würden hingegen beispielsweise auch Solarpanels einbezogen, bei denen eine starke Abhängigkeit von China besteht, könnte dies auf eine kostspielige, kurzfristig unmögliche Abkoppelung hinauslaufen, ein decoupling, das die Spannungen noch verstärken könnte. In der Frage, ob die EU, auch etwa bezüglich ausländischer Investitionen, eine Strategie wie die USA verfolgen soll, sei zudem zu berücksichtigen, dass Europa, speziell Deutschland, enger mit China verflochten ist als Nordamerika. Man spricht denn inzwischen auch von «offener strategischer Autonomie» als Ziel. Im Weiteren postulierte Wolff auch eine Beschleunigung der Dekarbonisierung. Indirekt war damit auch Russland ein Thema.

Europas Gegenwart und Zukunft Vortrag Guntram Wolff

Industriepolitik kein Tabu

In der von Markus Mugglin, Mitglied des SGA-Vorstands, geleiteten Diskussion kam besonders das Thema der staatlichen Förderung strategisch wichtiger Industrien zur Sprache. So setzen die USA mit ihrer Politik, «grüne» Unternehmen zu unterstützen beziehungsweise anzulocken, Europa unter einen gewissen Zugzwang. Wolff bekräftigte seine Skepsis gegen eine Rückverlagerung (re-shoring) der Produktion bestimmter Güter. Europa sollte zwar industriepolitisch «ein bisschen chinesischer werden», aber es stelle sich etwa die Frage, ob öffentliche Gelder, sofern sie überhaupt verfügbar seien, nicht wirksamer in die Forschung gesteckt würden. Der deutsche Gastreferent würde es ferner begrüssen, wenn im Interesse des europäischen Wissenschaftsstandorts für die Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU eine Lösung gefunden und die volle Forschungskooperation wiederhergestellt würde.

Insgesamt bleibe die Schweiz noch ausserhalb dieser europäischen Debatte, die Wirtschaft und Sicherheit zusammen denkt: Kathrin Amacker (Plattform Schweiz – Europa), Darius Farman (Foraus), Raphael Bez (EBS) und Roland Fischer (SGA) stimmten in dieser Einschätzung weitgehend überein und sahen demgegenüber das Land vor den gleichen Herausforderungen, im gleichen Boot. Die Frage einer Industriepolitik werde zu sehr von ideologischen Positionen aus beantwortet, obschon direkte und indirekte Subventionen selbstverständliche Praxis seien, sei es in der kantonalen Wirtschaftsförderung, in der Steuerpolitik oder beim Klimaschutz. Es sei ungewiss, wie lange sich die Schweiz durchschlängeln könne, wenn die grossen Akteure massiver agierten. Konkrete Forderungen wurden allerdings nicht erhoben, auch keine bestimmten Wirtschaftszweige genannt.

Im Zusammenhang mit der politischen und unternehmerischen Verantwortung für Menschenrechte wies Roland Fischer indes darauf hin, dass die Schweiz nach ideologischen Debatten um die Konzernverantwortungsinitiative in den Rückstand geraten sei. Es bleibe ihr der Nachvollzug der EU-Regelung, die bis Ende Jahr verabschiedet werden dürfte, hielt Markus Mugglin fest. Er würde sich eine Debatte und einen Ansatz wünschen, wie er in der kürzlich geschlossenen «grünen Allianz» der EU mit Norwegen zum Ausdruck komme, also eine Gesamtsicht auf Umwelt, Energie und industrielle Transformation.

UNO: Im Sicherheitsrat gestaltet die Schweiz mit

Die ersten Monate ihrer zweijährigen Zugehörigkeit zum Weltsicherheitsrat sind für die Schweiz gut verlaufen. Ihre Diplomatie kam nicht nur nach ihrer eigenen Einschätzung mit der neuen Aufgabe gut zurecht und konnte Spielräume nutzen. Sie wirkt vermittelnd, ohne dass dabei die Neutralität explizit eine Rolle zu spielen scheint.

Der frühere Botschafter Ulrich Lehner, Präsident der Gesellschaft Schweiz – UNO, eröffnete den zweiten Teil des Tags der Aussenpolitik in Bern mit Worten der Befriedigung. Die für die Jahre 2023 und 2024 als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats gewählte Schweiz zeige Verantwortung, beteilige sich an der internationalen «gouvernance» und folge dabei ihrer Überzeugung von der grundlegenden Bedeutung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Der nach 20jähriger Zugehörigkeit zur UNO an sich naheliegende Schritt in das zentrale Gremium war im Vorfeld speziell von der SVP heftig bekämpft worden. Nun, da die Schweizer Vertretung täglich am Werk ist, herrscht innenpolitisch weitgehend Ruhe. Gerade auch deshalb war ein Rückblick auf die ersten Monate am Platz.

Eigenständig und vermittelnd

Thomas Gürber, Leiter der Abteilung UNO im Aussendepartement (EDA), rief in Erinnerung, dass die Schweiz für ihre Mitwirkung Prioritäten gewählt hatte, die in ihrer Aussenpolitik nicht neu sind: nachhaltiger Friede, Schutz der Zivilbevölkerung, Klimafragen als Aspekt der Friedenspolitik und Effizienz der Arbeit des Gremiums selber. Doch der Sicherheitsrat hatte sich dieses Jahr auch mit unvorhergesehenen Ereignissen zu befassen, zum Beispiel mit dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien, einer Spannungs- oder Kriegsregion, oder mit dem Gewaltausbruch im Sudan (im Mai, als die Schweiz den Ratsvorsitz hatte). Eine gute interdepartementale Zusammenarbeit – Gürber erwähnte die Analysekapazität des VBS -, aktuelle Informationen aus dem diplomatischen Aussennetz und Leitplanken in Form von Referenzdokumenten erleichterten der von Pascale Baeriswyl geleiteten Mission in New York die rechtzeitige Vorbereitung ihrer Stellungnahmen; der Bundesrat musste bisher nie eingeschaltet werden.

Es sei gelungen, hielt Gürber als Zwischenfazit fest, in den Verhandlungen die eigenen Prioritäten einzubringen und Wirkung zu erzielen. Die Schweizer Diplomatie habe stets eigenständig, nicht unter dem Druck anderer Mitgliedstaaten, gehandelt und sich, wie es von ihr erwartet worden sei, auch hinter den Kulissen als Brückenbauerin betätigt. Mit allen zu reden ist offenbar nicht für alle Akteure selbstverständlich. In einzelnen Dossiers obliegt der Schweiz und einem weiteren Staat die Federführung, namentlich bei der immer wieder zu erneuernden und auf dem Spiel stehenden Sicherung des humanitären Zugangs nach Syrien. Als Vorsitzstaat, der einen Teil der Agenda selber gestalten kann, nutzte man den Mai unter anderem dazu, spezielle Debatten anzusetzen. Fünf Sitzungen wurden von Regierungsmitgliedern geleitet: von Aussenminister Ignazio Cassis (Friedensförderung,  Verhältnis UNO-OSZE sowie Sicherheit um das AKW Saporischschja), von VBS-Chefin Viola Amherd (Peacekeeping in Afrika) und von Bundespräsident Alain Berset (Schutz der Zivilbevölkerung). Die Beratung über das ukrainische Kernkraftwerk verlief übrigens «einigermassen konstruktiv», wie Gürber sagte. Im Gespräch mit Markus Heiniger (SGA-Vorstand) verdeutlichte er, dass der Sicherheitsrat in fast allen anderen Bereichen als dem Krieg gegen die Ukraine handlungsfähig geblieben sei.

Innenpolitische Bremsen

Fabien Merz, Forscher am Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH Zürich, bestätigte, dass die Schweiz im Sicherheitsrat einen guten Start hatte. Nach Einschätzung von Beobachtern konnte sie auf der ganzen Bandbreite der Themen engagiert und glaubwürdig mitarbeiten. Die Aufgabe werde allerdings in den kommenden anderthalb Jahren herausfordernd bleiben. (siehe dazu Beitrag von Fabien Merz).  Die Arbeitsweise des Neuling im Sicherheitsrat ist Thema eines Forschungsprojekts an der Universität Lausanne und am Genfer Graduate Institute. Flavia Keller informierte über das Vorhaben und stellte auch Folgerungen und Handlungsvorschläge in Aussicht.

Johann Aeschlimann, Mitglied des SGA-Vorstands, verfolgt die Uno-Aktivitäten der Schweiz an Ort und Stelle und berichtet auf der Website der SGA wöchentlich über die Debatten im Sicherheitsrat (Schweiz im Sicherheitsrat). Wenn die Einsitznahme der Schweiz in New York natürlich weniger zu reden gebe als in Bern, führte er aus, so habe das Land doch eine aussergewöhnliche Sichtbarkeit erhalten. Mitglieder sind nicht zuletzt für Nichtmitglieder von Interesse, die bestimmte Themen einbringen wollen. Die Schweiz werde hoch geschätzt. Ihre Vertretung erfülle ihre Aufgabe sehr gut, agiere gemeinsam mit anderen Staaten, teilweise aber auch individualistisch, etwa wenn sie die Experten und eben gleichgewichtig Expertinnen auswähle, wie sie zu allen Debatten beigezogen werden. Ebenso klar kritisierte Aeschlimann hingegen das Votum von Cassis an der Sitzung über Friedensförderung und Vertrauensbildung, nämlich als «peinliche Aneinanderreihung von Banalitäten». Mit einer substanzielleren Botschaft hätte er sich offenbar Schwierigkeiten in Bern eingehandelt. Die Unentschiedenheit des Bundesrats sei das Problem, nicht aber die Neutralität.