Lesetipp

Der «Sonderfall» Schweiz in klassischen Staatstheorien

von Christoph Wehrli | Oktober 2023
«Die Schweiz in der Staatstheorie»: Der Titel deckt sich mit dem Inhalt des Buches nur zu dessen kleinerem Teil. Daniel Brühlmeier (früher in Stabsfunktionen für den Kanton Zürich sowie als Universitätsdozent tätig, von 2014 bis 2022 im Vorstand der SGA) bietet einerseits mehr: Bevor er jeweils darlegt, was die ausgewählten Autoren über die Schweiz dachten und schrieben, präsentiert er eingehend ihr staatstheoretisches Werk als solches. Zu beachten ist anderseits, dass sich vier der fünf einschlägigen Klassiker nur mit den Verhältnissen vor Gründung des Bundesstaats 1848 befassen konnten oder wollten: Jean-Jacques Rousseau, James Madison, Alexis de Tocqueville und Jacob Burckhardt. Mit der modernen Schweiz setzte sich allein Max Weber näher auseinander.

Stadtrepublik als Rahmen

Namentlich für den Genfer Rousseau und den Basler Burckhardt stand als Staatswesen ihre Stadt oder ihr Stadtkanton im Vordergrund. Rousseaus Angabe, hinter dem «contrat social» stecke modellhaft das reale Genf, ist für Brühlmeier «wohl überzogen». Faktum ist indessen, dass der Philosoph 1764, nach Verurteilung seiner Publikationen in Paris und Genf, in einer Verteidigungsschrift die Gegenwart, konkret die Übermacht des Kleinen Rats, kritisch an der ursprünglichen, «legitimen» Verfassung mass, die namentlich mit der Bürgerversammlung (Conseil général) einen Ansatz für das Souveränitätsideal bot.

Burckhardt – ein Konservativer und Pessimist, mehr Kulturhistoriker als Systemtheoretiker – sah sich als Gegenpol zu Rousseau, war allerdings seinerseits von seiner besonderen Republik Basel geprägt. Den Bundesstaat lehnte der Basler beharrlich ab, wenn auch ohne eigene politische Aktivität. Im Rahmen einer allgemeinen Modernisierungskritik bezeichnete er die Demokratie als «Ausgeburt mediokrer Köpfe und ihres Neides», gab die «Ungewissheit über die Rechtsgrenzen von Kopfzahlbeschlüssen» zu bedenken und warnte vor der Ausartung in eine «Despotie von unten». Demgegenüber gehe die griechische Polis vom Ganzen aus, dem sich das Individuum hinzugeben habe. Burckhardts oft zitiertes Lob des Kleinstaats als Fleck auf der Welt, «wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger in vollem Sinne sind», wäre demnach nur mit Vorsicht auf die Schweiz zu beziehen.

Wege zum Föderalismus

Die schwachen zentralen Institutionen der Alten Eidgenossenschaft waren für die konkrete Politik ein Bezugsbeispiel, als die Vertreter der amerikanischen Staaten 1787/88 um eine gemeinsame Verfassung rangen. Brühlmeier zeichnet diesen Prozess ausführlich nach und vergleicht ihn mit der späteren Debatte in der Schweiz. Gegner eines starken amerikanischen Bundes und einer proportionalen Vertretung der Gliedstaaten im ganzen Parlament verwiesen auf die jahrhundertelange freie Existenz der schweizerischen Konföderation, in der alle Teile gleichgestellt seien. James Madison, der an den Beratungen in verschiedenen Gremien massgebend beteiligt war (und später Präsident der USA wurde), betrachtete mit anderen «Federalists» die Konstruktion der Eidgenossenschaft hingegen als zerbrechlich und keineswegs als Vorbild für die USA.

«Il y a des cantons, il n’y a pas de Suisse», notierte der französische Staatswissenschafter und spätere Parlamentarier Alexis de Tocqueville noch 1836 auf einer Reise durch das Land. Aber auch in den kantonalen politischen Systemen sah er erhebliche Mängel: ein aristokratisches Gehabe der Führungsschicht, Defizite bei den Freiheitsrechten, bei der Unabhängigkeit der Gerichte und bei den Parlamenten, wo er ein Zweikammersystem zur doppelten Deliberation für unerlässlich hielt («La Chambre unique, c’est la dictature», 1848).

Die in Amerika als Kompromiss resultierende, Madison übrigens nicht befriedigende Lösung - Repräsentantenhaus und Senat - war bekanntlich, trotz gewissen Unterschieden, das Modell, das 1848 in der schweizerischen Verfassungskommission einen Durchbruch erlaubte. Ignaz Paul Vital Troxler, der es in einer Schrift propagierte, behauptete dabei kühn, «der Keim dieser Föderalrepublik» sei «in unsern Bergen gesäet» und von dort nach Amerika gebracht worden . . .  Weniger bekannt ist, dass der deutsche Sozialwissenschafter Max Weber 1918 in der Debatte um die Weimarer Verfassung für ein gewähltes «Staatenhaus» als zweite Kammer plädierte, weil so nach schweizerischem Exempel «Eigenart und Interesse aller Stämme» ebenso gut gewahrt werden könnten wie mit einer Vertretung der Länderregierungen – dieses letztere, bereits bestehende System (Bundesrat/Reichsrat) setzte sich allerdings durch.

Demokratie nur introvertiert?

Max Weber prüfte auch Formen der direkten Demokratie und befürwortete Volksabstimmungen in bestimmten Fällen, darunter die Gesetzesinitiative, wie sie in der Schweiz auf Bundesebene fehlt. Selbst über ein Kollegialsystem an der Staatsspitze – nach dem ursprünglich französischen Muster eines Direktoriums mit unterstellten Fachministern – wurde damals mit Verweis auf die Schweiz diskutiert. Weber sah Vor- und Nachteile und stellte fest, dass «Massenstaaten» zur Sicherung der Entscheidungsfähigkeit eine stärkere Stellung einer Führungsperson (Ministerpräsident) vorzögen.

Die Unterscheidung zwischen dem zur Weltpolitik berufenen Grossstaat und dem die Bürgertugenden und die Demokratie pflegenden, jedoch machtlosen (Klein)Staat, wie sie sich etwas anders auch bei Burckhardt findet, wird von Weber selber durch seine Position zu den Volksrechten etwas relativiert. Ein konkretes Gegenbeispiel mag die von Tocqueville beschriebene Demokratie in den grossen, wenn auch noch nicht als Weltmacht agierenden USA sein. Wie Rousseau betrachtete Tocqueville allerdings die Aussenpolitik als Domäne der Regierung, denn Demokratien «ne résolvent guère les questions du dehors que par des raisons du dedans ».

Nicht ohne Bürgersinn

Daniel Brühlmeiers reichhaltige Darstellung kann, vor allem in ihren allgemeineren Teilen, nicht angemessen gewürdigt werden. Erwähnt sei allerdings, dass sie streckenweise wenig leserfreundlich ist. Der Autor setzt manchmal einiges voraus – sieht etwa bei zwei Autoren von biografischen Angaben ab – und packt seinen dichten Text, Zitate der Klassiker und Kommentare zu Sekundärliteratur gelegentlich in recht verschachtelte Konstruktionen. Die Lektüre ist jedoch lohnend. Die schweizerische Politik kann, pragmatisch und selbstbezogen wie sie ist, etwas grundsätzliche Reflexion vertragen. Und die Staatstheorie reicht mit vielen Bezügen weit über Institutionen und Prozesse hinaus. Tocqueville etwa weist auf die Unabdingbarkeit des «esprit de cité» hin, wogegen ein selbstbezogener Individualismus in eine Despotie führen könne.

 

Daniel Brühlmeier: Die Schweiz in der Staatstheorie. NZZ libro, Basel 2023. 358 S., Fr.34.-.