Editorial
Die EU-Kommission bewegt sich auf den Bundesrat zu!
von SGA-Präsidentin Gret Haller
| Oktober 2014
Nein, diesmal geht es nicht um die Bilateralen Verträge. Es geht um die Wahl der neuen EU-Kommission, die Schweizerinnen und Schweizern erstaunlich vertraut vorkommen muss.
Schon das Vorverfahren, die Anhörung der neuen Kommissare durch das Europäische Parlament erinnerte an das, was man in der Schweiz die "Nacht der langen Messer" nennt. In dieser Nacht vor den Bundesratswahlen schmieden jeweils verschiedene Schlaumeier - einige sind selbsternannt, andere sind alte Hasen in diesem Metier - neue Koalitionen, und oft werden so Überflieger gegen offizielle Bundesrats-Kandidaturen ins Spiel gebracht. So musste in Strassburg die slowenische Kandidatin über die Klinge springen und wurde durch eine neue Kandidatin ersetzt.
Die persönliche Zusammensetzung der Regierung über Parteigrenzen hinweg unterscheidet das schweizerische Regierungssystem von jenem aller anderen europäischen Staaten. Aber es ist gerade dieses Phänomen, das den Bundesrat der EU-Kommission gewissermassen vergleichbar macht, auch wenn die Kommission noch nicht zu einer eigentlichen Regierung der Union geworden ist. Immerhin ist sie durch die jüngsten Wahlen entscheidend gestärkt worden: Die europäischen Parteifamilien haben erstmals Spitzenkandidaten für die Wahlen ins EU-Parlament bezeichnet. Sie haben damit verhindern können, dass der Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten - wie bisher - am Parlament vorbei einen schwachen Kommissionspräsidenten wählen konnte. Damit ist die Union in ihrem langsamen Demokratisierungsprozess auch wieder ein gutes Stück vorangekommen.
Übertragen auf die ähnliche Situation der Schweiz in der Mitte des 19.Jahrhunderts hat also die "Tagsatzung" zurückstecken müssen, die Regierungskonferenz der Kantone, welche die Geschicke der Eidgenossenschaft bis dahin bestimmt hatte. Dies gleichsam zugunsten der direkt gewählten Abgeordneten, also dem durch die Staatsgründung von 1848 neu geschaffenen Parlament, das den Bundesrat wählt. Der Vergleich hinkt natürlich in verschiedener Hinsicht: Die EU entwickelt sich langsam und friedlich, während die Staatsgründung der Schweiz ein letztlich revolutionärer Akt war, diktiert von den Siegern im Sonderbundskrieg 1847. Und die Union dürfte wohl kaum zu einem eigentlichen Bundesstaat werden, sondern es entsteht eine neue Form der Staatlichkeit. Interessant sind einige Parallelen dennoch.
Für die Kommission wird heute aus jedem der 28 Mitgliedstaaten eine Person vorgeschlagen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker musste das Beste daraus machen. Das ist nicht ganz befriedigend. Deshalb hat der Münsteraner Politikwissenschaftler Wichard Woyke eine Verfahrensänderung vorgeschlagen, "... dass nämlich der Kommissionspräsident tatsächlich aussuchen kann, wen er nimmt, und dabei nur einen nationalen Proporz in Ansätzen berücksichtigt. Der kann sich auch über eine gewisse Zeit, über zwei Perioden erstrecken, sodass nicht jedes Jahr ein Kommissar vertreten sein muss. Dann kann die Kommission auch verkleinert werden und kann wesentlich effizienter arbeiten." (*) Man hört und staunt: Das ist der Bundesratsproporz nach Sprachregionen, Kulturen und Religionen, der sich auch über mehrere Legislaturen hinweg ausgleichen kann.
Auf Jean-Claude Juncker lasten sehr grosse Erwartungen. Aber der Luxemburger ist ein überzeugter Europäer der ersten Stunde. Luxemburg als EU-Gründerstaat weist mit seiner halben Million Einwohnern kaum 0,1% der gesamten EU-Bevölkerung auf. Uri als Gründerkanton der Eidgenossenschaft mit einem gesamtschweizerischen Bevölkerungsanteil von fast 0,5% konnte noch nie einen Bundesrat stellen. Ein Zahlenspiel? Jedenfalls haben die Kleinen in der Europäischen Union mindestens so gute Chancen wie in der Schweiz.
(*) www.deutschlandfunk.de/juncker-kommission-das-wird-eine-spannende-sache.694.de.print (abgerufen am 22.10.2014)
Schon das Vorverfahren, die Anhörung der neuen Kommissare durch das Europäische Parlament erinnerte an das, was man in der Schweiz die "Nacht der langen Messer" nennt. In dieser Nacht vor den Bundesratswahlen schmieden jeweils verschiedene Schlaumeier - einige sind selbsternannt, andere sind alte Hasen in diesem Metier - neue Koalitionen, und oft werden so Überflieger gegen offizielle Bundesrats-Kandidaturen ins Spiel gebracht. So musste in Strassburg die slowenische Kandidatin über die Klinge springen und wurde durch eine neue Kandidatin ersetzt.
Die persönliche Zusammensetzung der Regierung über Parteigrenzen hinweg unterscheidet das schweizerische Regierungssystem von jenem aller anderen europäischen Staaten. Aber es ist gerade dieses Phänomen, das den Bundesrat der EU-Kommission gewissermassen vergleichbar macht, auch wenn die Kommission noch nicht zu einer eigentlichen Regierung der Union geworden ist. Immerhin ist sie durch die jüngsten Wahlen entscheidend gestärkt worden: Die europäischen Parteifamilien haben erstmals Spitzenkandidaten für die Wahlen ins EU-Parlament bezeichnet. Sie haben damit verhindern können, dass der Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten - wie bisher - am Parlament vorbei einen schwachen Kommissionspräsidenten wählen konnte. Damit ist die Union in ihrem langsamen Demokratisierungsprozess auch wieder ein gutes Stück vorangekommen.
Übertragen auf die ähnliche Situation der Schweiz in der Mitte des 19.Jahrhunderts hat also die "Tagsatzung" zurückstecken müssen, die Regierungskonferenz der Kantone, welche die Geschicke der Eidgenossenschaft bis dahin bestimmt hatte. Dies gleichsam zugunsten der direkt gewählten Abgeordneten, also dem durch die Staatsgründung von 1848 neu geschaffenen Parlament, das den Bundesrat wählt. Der Vergleich hinkt natürlich in verschiedener Hinsicht: Die EU entwickelt sich langsam und friedlich, während die Staatsgründung der Schweiz ein letztlich revolutionärer Akt war, diktiert von den Siegern im Sonderbundskrieg 1847. Und die Union dürfte wohl kaum zu einem eigentlichen Bundesstaat werden, sondern es entsteht eine neue Form der Staatlichkeit. Interessant sind einige Parallelen dennoch.
Für die Kommission wird heute aus jedem der 28 Mitgliedstaaten eine Person vorgeschlagen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker musste das Beste daraus machen. Das ist nicht ganz befriedigend. Deshalb hat der Münsteraner Politikwissenschaftler Wichard Woyke eine Verfahrensänderung vorgeschlagen, "... dass nämlich der Kommissionspräsident tatsächlich aussuchen kann, wen er nimmt, und dabei nur einen nationalen Proporz in Ansätzen berücksichtigt. Der kann sich auch über eine gewisse Zeit, über zwei Perioden erstrecken, sodass nicht jedes Jahr ein Kommissar vertreten sein muss. Dann kann die Kommission auch verkleinert werden und kann wesentlich effizienter arbeiten." (*) Man hört und staunt: Das ist der Bundesratsproporz nach Sprachregionen, Kulturen und Religionen, der sich auch über mehrere Legislaturen hinweg ausgleichen kann.
Auf Jean-Claude Juncker lasten sehr grosse Erwartungen. Aber der Luxemburger ist ein überzeugter Europäer der ersten Stunde. Luxemburg als EU-Gründerstaat weist mit seiner halben Million Einwohnern kaum 0,1% der gesamten EU-Bevölkerung auf. Uri als Gründerkanton der Eidgenossenschaft mit einem gesamtschweizerischen Bevölkerungsanteil von fast 0,5% konnte noch nie einen Bundesrat stellen. Ein Zahlenspiel? Jedenfalls haben die Kleinen in der Europäischen Union mindestens so gute Chancen wie in der Schweiz.
(*) www.deutschlandfunk.de/juncker-kommission-das-wird-eine-spannende-sache.694.de.print (abgerufen am 22.10.2014)
Kolumne
Der EWR ist von gestern, nicht für morgen
von alt Nationalrat Hans-Jürg Fehr | April 2023
Vor dreissig Jahren wäre der Beitritt der Schweiz zum Europäische Wirtschaftsraum EWR eine gute Lösung gewesen. Das Stimmvolk wollte nicht. In jüngster Zeit wird er von gewissen politischen Kreisen wieder propagiert. Aber heute wäre er eine schlechte Lösung.
Kolumne
Schulterschluss zwischen Bund und Kantonen in der Europapolitik
von Thomas Moser* | April 2023
Der bilaterale Weg zwischen der Schweiz und der EU ist ein Spiel, das von den Verteidigungsreihen dominiert wird. Seit 2007 werden keine wichtigen Verträge mehr abgeschlossen. Die Verhandlungen enden torlos. Als der Bundesrat am 29. März 2023 in Aussicht stellte, die Sondierungsgespräche mit der EU abzuschliessen und bis Ende Juni ein Verhandlungsmandat zu erarbeiten, verwies er auf die Kantone. Der Dialog mit ihnen habe es ermöglicht, für die Staatsbeihilfen und Zuwanderungsfragen konkrete Lösungsansätze zu definieren.