Lesetipp

Die Schweiz ist längst Teil des EuGH

von Markus Mugglin | Dezember 2023
Der in der Diskussion über das Verhältnis der Schweiz zur EU vielfach gescholtene Europäische Gerichtshof EuGH hat die Schweiz längst «unterwandert». So fremd sind uns die angeblich «fremden Richter» längst nicht mehr, lehrt uns das neue Buch des Europarechtsprofessors Matthias Oesch.


 «Auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck» habe das europäische Recht auch in der Schweiz Fuss gefasst, macht der Europarechtsexperte Matthias Oesch von der Universität Zürich für den Schnellleser gleich auf dem Buchdeckel seiner neusten Publikation «Der EuGH und die Schweiz» klar. Damit setzt der Autor zweifellos einen Kontrapunkt zur gängigen Polemik gegen die sogenannt «fremden Richter», nimmt sie aber vor allem als Ausgangspunkt seiner faktenreichen und analytisch gründlich fundierten Analyse des EuGH und dessen Wirkungen auf den politischen und rechtlichen Alltag der Schweiz.

«Es sei höchste Zeit, den EuGH und seine wegweisenden Urteile näher kennenzulernen», schreibt der Autor in seiner 230 Seiten dicken Publikation. Er löst das Versprechen eindrücklich ein.

Eine überragende Rolle

Im ersten Kapitel legt der Autor die Grundlagen des Gerichts offen, seine institutionellen Eigenheiten und die überragende Rolle, die es mit seinen seit 1952 erlassenen 44'000 Urteilen und Beschlüssen bei der Entwicklung des EU-Rechts gespielt hat. Der EuGH ist über die letzten 70 Jahre zu einem mächtigen Gericht geworden. Er hat die Binnenmarktintegration durch eine grosszügige Auslegung der Grundfreiheiten für Dienstleistungs-, Kapital-, Personen- und Warenverkehr vorangetrieben. Er hat den Arbeitnehmendenschutz bis zur grossen Finanzkrise sehr wirtschaftsfreundlich ausgelegt und seither sozialer justiert, den Schutz der Grundrechte über Diskriminierungsverbote, Gleichstellung von Männern und Frauen, die Unionsbürgerschaft oder die Werte der Rechtsstaatlichkeit weiterentwickelt. Und zuweilen provozierte das Gericht Kritik, weil es über seine Ausrichtung einer «immer engeren Union der Völker Europas» sich zum eigentlichen Integrationsmotor entwickelte, statt diese Rolle der Politik zu überlassen.

Oesch lässt sich auf die Diskussion ein und hält ihr zugleich entgegen. Die starke Stellung des EuGH sei in den Verträgen angelegt. Sie beruhe auf einer bewussten Entscheidung der Mitgliedstaaten und entspringe dem Anliegen, die «Einheit durch Recht als Quellcode der Rechtsgemeinschaft» (EU-Vertrag) gerichtlich abzusichern.

EU-Recht «schleicht» sich über verschiedene Wege ein

Nach dem Übersichtskapitel wendet sich Matthias Oesch den juristisch unterschiedlichen Beziehungsmustern zwischen dem EuGH und der Schweiz zu. Sie sind vielfältiger und in ihrer Wirkung viel grösser als meist vermutet. Da geht es im Kapitel zwei um das bilaterale Beziehungsgefüge und wie das EU-Gericht mit Urteilen auf die Schweiz als vertraglich eingebundener Drittstaat einwirkt. So war es bei einem Streit um den Fluglärm im süddeutschen Raum und in mehr als nur einem Fall bei Fragen, die im Zusammenhang mit der Assoziierung der Schweiz über die Schengen- und Dublin-Abkommen zu bewerten waren.

Aber auch die Schweiz selber räumt dem EU-Recht Vorrang ein, legt Oesch in Kapitel drei dar. Geradezu aufsehenerregend tat es das Bundesgericht mit einem Urteil von 2015 zum Freizügigkeitsrecht. Es anerkannte den Vorrang von Völkerrecht auch «im Verhältnis zur Europäischen Union und den von der Schweiz im Freizügigkeitsrecht staatsvertraglich eingegangenen Pflichten». Der Richtspruch sagt also, dass schweizerische Gesetze nicht vom mit der EU abgeschlossenen bilateralen Freizügigkeits-Vertrag abweichen dürfen.

Den unbedingten Vorrang des Vertrags mit der EU hat das Bundesgericht 2022 auch auf das Dublin-Abkommen ausgedehnt. Es betonte aber auch verschiedentlich, dass gewisse bilaterale Abkommen wie beispielsweise das Freihandelsabkommen, die im Vergleich zum EU-Recht einen weniger weitgehenden Integrationsgrad anstreben, nicht automatisch gleich auszulegen seien.

Die Anpassung an europäisches Rechtsdenken vollzieht sich zusätzlich «autonom nachgebildet» über den sogenannten «Brussels effect», über den sich handelspolitische EU-Normen und Regeln global durchsetzen. Das wirke sich auch auf die Schweiz aus und sogar «in ganz erheblichem Ausmass».

Die Grundlage dafür habe die Schweiz selber gelegt mit ihrem Entscheid, das eigene Recht europakompatibel auszugestalten. Zwangsläufig richtet sich dann auch die Rechtsanwendung am Europareflex aus. Oesch nennt als Beispiel das Wettbewerbsrecht. Da sich das schweizerische Kartellgesetz stark am europäischen Wettbewerbsrecht orientiere, sei auch die europäische Praxis zu berücksichtigen, argumentierte das Bundesgericht in einem Urteil.

Kein Grund zur Aufregung, aber zu kleinen Korrekturen

Im vierten Kapitel greift Oesch die Frage auf, worüber die EuGH-Polemik sich im Lande dreht. Drohen uns die fremden Richter als Instanz, die nach Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU bei Streitigkeiten das letzte Wort hätten?

Am EuGH gebe es kein Vorbeikommen, weil er – nicht nur im Falle der Schweiz – die ausschliessliche Zuständigkeit beanspruche, EU-Recht verbindlich auszulegen. Um nicht mehr, aber auch nicht um weniger als das gehe es. Das EU-Recht, das über einzelne sektorielle Abkommen auf die Schweiz ausgedehnt werde, bleibe eben wesensmässig EU-Recht, dessen Auslegung der EuGH gar nicht delegieren dürfe.

Immerhin – und nicht nur als «Trostpflaster» gedacht, schlägt Matthias Oesch Verbesserungen vor gegenüber dem Vorschlag eines Rahmenabkommens  von Ende 2018. Die Verpflichtung eines Schiedsgerichtes, das einen Streit beilegen müsste, den EuGH anzurufen, sollte genauer definiert und eingeschränkt werden. In den Abkommen festgelegte Spezialregeln möchte er allein einem Schiedsgericht vorbehalten. Auch die Klärung eines Begriffs des EU-Rechts im bilateralen Kontext Schweiz – EU sollte nicht dem EuGH vorgelegt werden müssen.

Europäischer Kulturwandel 

Rechtlich ist die Schweiz also längst europäisch. Und doch würde sich mit einem neuen Streitschlichtungsverfahren mehr ändern, als es politisch und rechtlich den Anschein macht. Denn zwischen der Schweiz und der EU bestehe ein «augenfälliger Kontrast zum Grundverständnis über die Rolle der Politik, des Rechts und der Gerichte», diagnostiziert der Europarechtler. «Unterschiedliche Kulturen und Formen der Verfasstheit von Gesellschaften» würden aufeinanderprallen. Die EU verstehe sich seit jeher als Rechtsgemeinschaft. Sie entspringe dem Anliegen, die Einheit durch Recht gerichtlich abzusichern – wofür der EuGH zuständig ist. Die Schweiz hingegen bevorzuge seit jeher politische Konfliktlösungen. Sie wolle die Lösung von Konflikten nicht gerichtlichen Instanzen übertragen.

Es wäre aber in ihrem Interesse. «Als politisch und wirtschaftlich weniger mächtigen Vertragspartei» könnte sich die Schweiz «vor ungerechtfertigten einseitigen Massnahmen der EU» schützen, könnte – falls nötig – einen vereinbarten Zugang zum EU-Binnenmarkt gerichtlich einfordern.

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 Matthias Oesch. Der EuGH und die Schweiz. EIZ Publishing, 2023.  Fr. 72.90 (gebunden), Fr. 52.90 (broschiert). Auch als elektronische Version.