Meinungsbeitrag

Die Schweiz und der Wiederaufbau in der Ukraine: Wir brauchen ein Gesetz

von René Holenstein (Mitarbeit: Therese Adam und Markus Heiniger) | Oktober 2023
Mehr als eineinhalb Jahre dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits an. Seitdem hat dieser Krieg Tausenden von Zivilisten das Leben gekostet und Millionen von Menschen in der Ukraine zur Flucht gezwungen. Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes werden auf über 400 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Bei einer kürzlichen Veranstaltung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) betonte der Vizepräsident des ukrainischen Gewerkschaftsbundes, dass es notwendig sei, bereits jetzt Massnahmen zur Unterstützung des Wiederaufbaus in der Ukraine zu ergreifen. Aufgrund des Kriegs herrscht ein Fachkräftemangel, da viele qualifizierte Arbeitskräfte entweder im Militärdienst stehen, verletzt wurden ihr Leben verloren haben, oder als Flüchtlinge im Ausland leben. Besonders im Bereich der Reparaturarbeiten und der Instandsetzung der Elektrizitätsnetze besteht ein akuter Bedarf an Fachkräften. Beim Wiederaufbau werden ausländische Unternehmen, darunter europäische und internationale Konzerne, vor Ort aktiv sein, insbesondere im Infrastruktur- und Baubereich. Der Gewerkschaftsvertreter unterstrich, wie wichtig es ist, internationale Arbeitsnormen einzuhalten und angemessene Arbeitsbedingungen zu schaffen, um soziale Spannungen zu vermeiden und sicherzustellen, dass ukrainische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können.

Nicht auf Kosten der Entwicklungszusammenarbeit

Die geopolitischen und lokalen Auswirkungen des Kriegs erfordern von der Schweiz eine mittelfristige und umfassende Ukrainestrategie. Die Schweiz steht laut dem Kieler Instituts für Weltwirtschaft derzeit auf dem 18. Platz, wenn man die gesamte Regierungshilfe der verschiedenen Länder im Verhältnis zu ihrer eigenen Wirtschaftsleistung betrachtet. Daher ist es dringend erforderlich, dass die Schweiz langfristig mehr Unterstützung für die Ukraine leistet.

Eine Gruppe Ehemaliger des EDA schlägt nun vor, dass der Beitrag der Schweiz zum Wiederaufbau in der Ukraine auf der Grundlage eines neuen Bundesgesetzes erfolgen sollte. Das Vorgehen kann sich an den Erfahrungen mit der Osthilfe für Reformen in ehemaligen kommunistischen Ländern Osteuropas und der Sowjetunion orientieren. Die Unterstützung in diesen Fällen basierte auf einem Bundesgesetz zur Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und auf mehrjährigen Verpflichtungskrediten. Eine separate Budgetlinie mit zusätzlichen Mitteln wurde eingerichtet, so dass laufende Projekte in anderen Ländern nicht abgebrochen werden mussten.

Der Wiederaufbau in der Ukraine stellt unter anderem wegen des eklatanten Bruchs des Völkerrechts (UNO-Charta) einen präzedenzlosen Fall dar. Deshalb darf die Finanzierung nicht auf Kosten der ärmsten Länder gehen, wie es der Bundesrat in der Vernehmlassung zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2025–2028 vorschlägt. Ad-hoc-Beiträge sind für ein Vorhaben von besonderer strategischer Bedeutung wie dieses weder zielführend noch nachhaltig und unterliegen zudem finanziellen Unsicherheiten. Gemäss Gesetzesvorschlag würde im Bundeshaushalt ein  Zahlungskredit für die Ukraine-Hile  mit einer separaten Budgetlinie festgelegt. Die Budgetmittel würden von allen Departementen gemeinsam kompensiert. Ausserdem könnte eine Sondersteuer auf ausserordentliche Gewinne von Schweizer Rohstoffunternehmen und andere zweckgebundene Einnahmen beschlossen werden, um weitere Finanzierungsquellen zu erschliessen. Bei einer internationalen Einigung über die eingefrorenen Gelder der russischen Zentralbank könnten auch diese Mittel in den Wiederaufbau der Ukraine fliessen.

Das neue Gesetz für die Ukraine sollte sich an den «Lugano-Prinzipien» orientieren, die im Juli 2022 auf einer internationalen Konferenz in Lugano beschlossen wurden. Diese Prinzipien betonen die partnerschaftliche Zusammenarbeit, demokratische Beteiligung, Inklusion und Nachhaltigkeit. Darüber hinaus sollte die Hilfe die sozialen Aspekte des Wiederaufbaus berücksichtigen und Disparitäten reduzieren. Die Unterstützung sollte so gestaltet sein, dass sie bestehende Spannungen und Konflikte, wie sie in Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften häufig vorkommen, berücksichtigt und deeskalierend wirkt, anstatt sie zu verschärfen.

Eckpunkte einer schweizerischen Unterstützung

Die Hauptbereiche, in denen die Schweiz ihre Unterstützung in den nächsten Jahren konzentrieren sollte, sind humanitäre Hilfe, der Wiederaufbau und die Förderung der guten Regierungsführung für soziale und wirtschaftliche Reformen. Die Schweiz sollte klare Schwerpunkte setzen, darunter Entminung, Stärkung des Gesundheitssystems, Dezentralisierung, Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner sowie Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und von nachhaltigen Umwelttechnologien.

Die schweizerische Wirtschaft wird ebenfalls zum Wiederaufbau der Ukraine beitragen, indem sie Aufträge vergibt und so zur Erholung ukrainischen Wirtschaft beiträgt. Unter anderem soll geprüft werden, ob die Kriterien für die Exportrisikoversicherung (SERV) im Hinblick auf die Ukraine angepasst werden sollten. Ausserdem könnte die Schweiz der Ukraine Währungshilfe gewähren, wie es auch andere westliche Länder tun.

Viele ukrainische Flüchtlinge werden aktiv am Wiederaufbau ihres Landes mitwirken. Dies könnte durch Unterstützung ihrer Rückkehr erleichtert werden, beispielsweise durch Angebote zur beruflichen Bildung und Weiterbildung, sowohl in der Ukraine als auch in der Schweiz. Ein Koordinationsorgan sollte eingerichtet werden, in dem Bund, Wirtschaft, Verbände und NGOs, die in der Ukraine tätig sind, zusammenarbeiten.

Und jetzt?

In der Vernehmlassung zur neuen Strategie für internationale Zusammenarbeit 2025–2028 haben verschiedene Parteien und Organisationen die Einführung eines Bundesgesetzes für die Ukraine befürwortet, so auch die SGA. Paradoxerweise war es jedoch der Fraktionschef der Mitte, der vor zwei Wochen im Nationalrat einen Anstieg der humanitären Hilfe für die Ukraine blockierte. Dies im Gegensatz zur Position seiner eigenen Partei. Die Hilfe für die Ukraine erträgt indessen keine weiteren Versögerungen. Solange keine gesetzliche Grundlage zustande kommt, sollten der Bundesrat und das Parlament umgehend einen Rahmenkredit sowie den dazugehörigen einfachen Bundesbeschluss genehmigen.

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Die drei AutorInnen sind Mitglieder der Gruppe, die den Vorschlag ausgearbeitet hat.