Kolumne

Endlich eine Vision! Eine Vision?

von SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder | August 2019
Die vom EDA-Chef bestellte «Aussenpolitische Vision Schweiz 2028» ist eine beherzigenswerte aussenpolitische Auslegeordnung. Um zur Inspirationsquelle für die künftige Aussenpolitik zu werden, verdient der Bericht eine breite Debatte. Auch deshalb, weil er insbesondere europapolitisch nicht eben visionär wirkt.

Ist hierzulande von Vision die Rede, kann es nicht ausbleiben, dass der Sarkasmus bemüht wird, wer Visionen habe, solle einen Arzt aufsuchen. Auch bei der Präsentation der „Aussenpolitischen Vision Schweiz 2028“ ging es nicht ohne diesen (je nach Intonation amüsanten oder aber läppischen) Spruch. Das Land hat es anscheinend lieber visionslos. Und wer über die Nasenspitze hinausblickt, meint sich entschuldigen zu sollen. Zweimal falsch. Wer sich keine Gedanken macht über mögliche und wünschbare Zukünfte, der wird tagtäglich im Dunkeln tappen.

Verdienstvoll ist es deshalb, dass der Vorsteher des EDA eine hochkarätige Gruppe mandatierte, eine aussenpolitische Vision zu entwerfen. Herausgekommen ist eine lesens- und beherzigenswerte Auslegeordnung. Sie geht von der Erkenntnis aus, dass es unserer Aussenpolitik an einer „übergeordneten Gesamtsicht“ gebricht, wie Bundesrat Ignazio Cassis im Vorwort zum nun vorliegenden Bericht treffend schreibt. Ob dieser zur „Inspirationsquelle für die künftige Aussenpolitik“ wird, wie der Aussenminister an gleicher Stelle postuliert, hängt davon ab, ob die Vision sogleich dem Vergessen anheimfällt oder Ausgangspunkt einer breiteren Debatte wird. Letzteres ist sehr zu wünschen.

Der knapp 50-seitige Bericht bringt viel Richtiges, Nützliches, Beherzigenswertes; manches, das im kärglichen aussenpolitischen Denken und Reden immer wieder zu kurz kommt. Die Einsicht etwa, dass sich ehemals innenpolitische Themen laufend internationalisieren und europäisieren. Oder die damit zusammenhängende Feststellung, dass Unabhängigkeit und demokratische Entscheidungsverfahren stets mit internationalen Regulierungsprozessen sowie Trans- und Supranationalität auszutarieren sind. Zentral ist die Aussage, Aussenpolitik und Innenpolitik seien eng ineinander verschränkt. Das heisst gerade nicht, Aussenpolitik sei (gemäss dem oft zitierten und noch öfter missverstandenen Diktum „Aussenpolitik ist Innenpolitik“) einfach eine Funktion innenpolitischer Machbarkeit. Vielmehr postuliert der Bericht die aktive Förderung einer „Kultur, die Aussenpolitik als Teil der Innenpolitik und Innenpolitik als Teil der Aussenpolitik versteht“. Dem kann man nur zustimmen.

Und doch greift der Bericht in wichtigen Belangen oft zu kurz. Vieles kommt als Gemeinplatz, altbekannter Refrain, nicht hinterfragtes Apriori daher. Schwer verdaulich etwa die nicht weiter spezifizierte Aussage: „Die politische Kultur der Schweiz und ihre Eigenheiten setzten Grenzen, wenn es um die Strategiefähigkeit unseres Landes geht.“ Man fragt sich, was derlei Resignation (oder ist es eine Selbstabsolution?) in einer Vision zu suchen hat.

Wer sich an einer Vision versucht, steht unweigerlich vor dem Dilemma zwischen heroischem Wurf, ohne stets auf die Umsetzbarkeit zu schielen, oder vorsichtigem Fortschreiben des Vertrauten mit dem Risiko, im Status quo befangen zu bleiben. Löst man sich nicht vom Herkömmlichen und scheinbar Unverrückbaren, entsteht keine Zukunftsschau. Vergisst man, woher man kommt, droht man die Bodenhaftung zu verlieren, um dann umso härter auf dem Boden der Realität aufzuschlagen. Den Verfassern der „Aussenpolitischen Vision Schweiz 2028“ kann schwerlich vorgeworfen werden, sie hätten sich als Illusionisten zu kühnen Höhenflügen hinreissen lassen. Vielmehr bleibt die Flughöhe oft gar bodennah.

Europapolitik auf der Kriechspur
Dies gilt vor allem für das Europa-Kapitel. Ausgangspunkt ist die (ausserhalb der Schweiz weitgehend selbstverständliche) Einsicht: „Ein europäisches Zusammenrücken würde sich angesichts des raueren weltpolitischen Klimas aufdrängen.“ Vielversprechend ist auch der Einstiegssatz: „Das Verhältnis der Schweiz zu Europa ist die Schlüsselfrage ihrer Aussenpolitik.“ Doch dann erlahmt der Elan sogleich. Was folgt, ist ein Minimalprogramm: Bis 2028 soll der bilaterale Weg konsolidiert werden, die Schweiz möchte als Nichtmitglied partnerschaftlich mitgestalten, die institutionellen Fragen sollen bis dahin geregelt sein, und man will sich für gemeinsame Lösungen zur Regelung regionaler Zusammenarbeit einsetzen. Im Klartext: Bestenfalls etwas Bewegung auf der Kriechspur. Verdient das den Namen Vision?

Von einer europapolitischen Vision möchte man erfahren, in welchen Bereichen man weitergehen möchte, wo es ohne gemeinsame Lösungen nicht weitergeht, wie man als Drittstaat glaubt mitgestalten zu können und wie angesichts innenpolitischer Blockaden vermieden werden soll, definitiv in die bilaterale Sackgasse zu geraten. Und müsste, was Vision heissen möchte, nicht zumindest thematisieren, wie der Erosion demokratischer Mitbestimmung angesichts zunehmender Internationalisierung und Europäisierung der Normsetzung und ohne demokratische Repräsentation auf europäischer Ebene begegnet werden soll?

Indes krankt die europapolitische Vision an etwas noch Grundlegenderem: Europa wird einmal mehr verstanden als „die Anderen“. Europa, das sind Dritte, von denen wir etwas wollen und mit denen wir uns gerne arrangieren möchten. Aber sind Europa nicht auch wir? Liegt die Schweiz jenseits dieses Kontinents? Solch insulare Optik ist realitätsfremd. Auch scheinen die Autoren Europa als Selbstbedienungsladen zu verstehen. Wir holen uns, was uns passt, selbstverständlich voraussetzend, dass uns gegeben wird, was wir gerne hätten. Hat die Schweiz Europa eigentlich nichts zu bieten? Gerade eine Vision wäre doch die Gelegenheit, in Abwandlung eines famosen Diktums auch mal zu sagen: „Frage nicht, was Europa für dich tun kann, frage vielmehr, was du für Europa tun kannst!“

Die Schweiz habe kein Interesse daran, „dass sich die EU in Richtung eines europäischen Superstaates weiterentwickelt“, lautet ein Axiom des Berichts. Was ist mit „Superstaat“ gemeint? Ist es das, was die Schweizer Kantone in der Mitte des 19. Jahrhunderts – nach diversen Katastrophen und im Angesicht gemeinsamer Herausforderungen – als in ihrem Interesse liegend erkannt haben? Und wie verträgt sich die Aussage mit dem oben zitierten Befund, ein europäisches Zusammenrücken dränge sich auf?

Endlich haben wir eine aussenpolitische Vision. Aber ist es eine Vision? Eine europapolitische jedenfalls nicht!