Europa – ein langer Lernprozess

von Christoph Wehrli | Februar 2019
Erhard Busek, ehemaliger österreichischer Vizekanzler und engagierter «Mitteleuropäer», hat an der Universität Bern schonungslos Mängel der europäischen Integration benannt, an deren Sinn aber keine Zweifel aufkommen lassen. Nachholbedarf und Chancen sieht er besonders im Bereich von Kultur und Bildung.

In der Debatte um die Zukunft der Europäischen Union sind oft Verzagtheit, gelegentlich feindselige Kritik oder aber auf «Mehr vom Gleichen» hinauslaufende Rezepte auszumachen. Erhard Busek, der als ÖVP-Politiker hohe Ämter ausgeübt hat und vielseitig für die europäische Einigung tätig war und ist, hat in der Aussenpolitischen Aula das Thema «Neue Spaltung zwischen Ost und West in Europa» mit offenen, gelegentlich sarkastischen Worten, aber vor allem mit «Seele» angepackt – gerade im Sinn der Erkenntnis, dass man einen blossen Binnenmarkt nicht lieben kann.

Stückwerk mit Mängeln
Busek hat zusammen mit Emil Brix in dem Buch «Europa revisited» (2018) begründet «warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird». In dem Vortrag, zu dem die SGA zusammen mit Avenir Suisse eingeladen hatte, blickte er primär auf die Entwicklung der EU als Ganzes, wofür die neueren Mitgliedstaaten ein Prüfstein sind. «Wir sind mitten im Prozess, Europa zu lernen», sagte er, relativierte damit die «schwierige Situation» und öffnete eine positive Perspektive mit einem weiten Zeithorizont, der denn auch einen langen Atem verlangt. Das ursprünglich dreifache europäische Projekt sei nur teilweise umgesetzt worden: An den Aufbau einer politischen Gemeinschaft ging man nie heran, die Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 im französischen Parlament, die Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde zur «Erfolgsgeschichte», gerade auch etwa in Tschechien und in Polen. Damit sei es nun nicht getan, vielmehr müsse man «Europa eine Seele geben».

Momentan steht allerdings im Vordergrund, was Busek als «Korrosionserscheinungen» erwähnte: eine Zunahme irrationaler Tendenzen, separatistische Bewegungen, etwa in Katalonien oder Schottland, und der neue Nationalismus. Die Haltung mit dem Motto «Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich» erklärt (auch) er sich mit den dramatischen wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Veränderungen, die, nicht beherrscht, Angst hervorrufen. Was speziell die 2004 der EU beigetretenen Staaten betrifft, so bejahte Busek, dass es noch am richtigen Umgang mit ihnen mangle, dass man die neuen Mitglieder von oben herab behandelt und bei der Besetzung von Ämtern lange zu wenig berücksichtigt habe. Die Achse Paris – Berlin falle aus der Zeit.

Globale Realität anerkennen
Aus globalen Realitäten, die zu Krisen führen, ergibt sich für Busek auch ein zentraler Impuls, auf dem Weg Europas voranzugehen. Es sei dringend, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Anteil Europas an der Weltbevölkerung noch 7, jener an der Weltwirtschaft noch 20 bis 22 Prozent ausmache – beides mit sinkender Tendenz. Die Uno habe beispielsweise im Ukraine-Konflikt keine Rolle gespielt, die USA neigten zum Rückzug, mit Russland habe der Westen noch keinen guten Dialog gefunden, die Türkei zeige Präsenz im Raum des einstigen Osmanischen Reichs, China investiere in grosse Infrastrukturen wie den Hafen von Piräus und eine Bahn nach Budapest – wieso nicht Europäer? Man sollte sich fragen, wie Europa sich halten, wie es genügend handlungsfähig werden könne; man sei aber zu sehr «damit beschäftigt, erschöpft zu sein». Busek fixierte sich nicht auf die Konzeptionen der Gründungszeit und auf die historische Friedensfunktion der EU im damaligen Kontext, richtete den Blick vielmehr auf heutige Bedrohungen, die er als eine Art dritten Weltkrieg bezeichnete: Handelskonflikte, Cyber War und «Informationskrieg».

Als Bereiche mit Handlungsbedarf hob er allerdings in der Diskussion mit Markus Mugglin und Patrick Dümmler die Kultur und die Bildung hervor. In der Kultur gebe es beachtliche Gemeinsamkeiten, aber keine formelle Kompetenz und nur wenig Budgetmittel der EU. Das an sich bedeutungsvolle Erasmus-Programm für den Studentenaustausch sei nur an der wirtschaftspolitischen Zuständigkeit aufgehängt, sollte aber weiterentwickelt werden. Solche Anstrengungen wären besonders für jene Staaten vonnöten, denen man nach dem Ende des Kommunismus «nichts nachgeliefert» habe – das Rechtsstaatsprinzip sei noch nicht alles. Busek erinnerte an die Bildungsanstrengungen der USA zur neuen Grundlegung der Demokratie in Deutschland und Österreich nach 1945. Vor allem plädierte er für das Gespräch, dafür, «hinzugehen» und heutige europäische Realitäten zu entdecken.