Lesetipp

Vasallenstaat Schweiz - Fortschritt in der Schmach der «Franzosenzeit»

von Christoph Wehrli | Februar 2023
Von 1798 bis 1813 war die Schweiz ein Staat von Frankreichs Gnaden. Aber neben Krieg und Besetzung, Plünderung und Lasten brachte diese Zeit der Eidgenossenschaft einen Schub an moderner Staatlichkeit.

Ist ein Buch mit dem Titel «Napoleon und die Schweiz» unter aussenpolitischem Gesichtspunkt von Interesse? Die Souveränität des Landes war ja in jener Zeit so eingeschränkt, dass von einer eigenen Aussenpolitik gar nicht geredet werden kann. Und als Napoleons Herrschaft geendet hatte, vertraten die Kantone alles andere als eine gemeinsame Position. Doch paradoxerweise hat die Schweiz durch die französische Fremdbestimmung mächtige Impulse zu ihrer staatlichen Entwicklung erhalten. Und danach sorgten wesentlich die antinapoleonischen Mächte für ihre Weiterexistenz. Solche ambivalenten Abhängigkeiten sind ins Geschichtsbild und Selbstverständnis einzubeziehen.

Föderalismus aus Paris

Der freiberufliche deutsche Historiker Thomas Schuler hält deutlich fest, dass die vom Basler Revolutionsanhänger Peter Ochs entworfene, aber letztlich von Frankreich oktroyierte Verfassung der Helvetischen Republik deren Bewohner:innen, auch jenen in den ehemaligen Untertanengebieten, Rechtsgleichheit, Wahlrechte, Gewaltenteilung, ein humaneres Strafrecht, Schulpflicht und andere fundamentale Neuerungen brachte, zu denen die in der Alten Eidgenossenschaft herrschenden Kreise nicht willens oder nicht fähig gewesen waren.

Der plötzlich eingeführte Einheitsstaat scheiterte allerdings rasch an der internen Grundsatzopposition, ausserdem an einem vor allem kriegsbedingten Mangel an Finanzen. Napoleon sah sich jedenfalls zur Bemerkung veranlasst, er würde sich «für unfähig halten, die Schweizer zu regieren», und «vermittelte» 1803 für Kantone und Eidgenossenschaft eine zweite, stabilere Verfassungskonstruktion. Mit dieser Mediationsakte machte sich der Erste Konsul des zentralistischen Frankreichs zu einem Vater des föderativen Prinzips – wobei es sich vorerst eher um einem Staatenverbund als einen Bundesstaat handelte.

Die (realistische) Rücksichtnahme auf die gegebenen Verhältnisse kann man als Zeichen eines gewissen Wohlwollens für die Schweiz betrachten, wenn man zum Vergleich etwa die Einsetzung von Napoleons Bruder als König von Spanien 1807 beizieht. Schuler beschönigt aber keineswegs, dass die Schweiz in beiden Phasen aussenpolitisch weitgehend im Griff der «französischen Freundschaft» war. Auch beschreibt er genau den Raub des enormen bernischen Staatsschatzes und sieht in der «Ausplünderung des reichen Nachbarlands» das Hauptmotiv des militärischen Eingreifens im Jahr 1798. Darüber hinaus bestand jedoch das Ziel einer dauerhaften Kontrolle.

In Kriege verwickelt

Der Schwerpunkt des Buchs liegt indessen nicht bei der Analyse der Entwicklungen in der Schweiz und ihrer Wechselwirkungen mit den Vorgängen im europäischen Umfeld. Weiten Raum gibt der Autor vielmehr der Schilderung dramatischer Episoden. Dazu gehören namentlich Napoleons Zug über den Grossen St. Bernhard und das schlimme Schicksal von Suworows russischen Truppen in den winterlichen Alpen, die Niedermetzelung des Widerstands von Nidwalden 1798 und die Kämpfe schweizerischer Truppenteile auf dem Rückzug aus Russland 1812. Die Darstellung scheusslicher Gewalt mündet mehrmals in erbauliche Worte über den Frieden. Und die vielen zitierten zeitgenössischen Berichte werden mit eigenen Veranschaulichungen ergänzt, die historisch Interessierten unnötig erscheinen, so etwa, wenn in der «Hölle an der Beresina» der Schnee «gespensterhaft tanzte», um bald zum «Leichentuch» zu werden.

Die Relativität der Neutralität

Instruktiv ist Schulers wiederholter Blick auf die Neutralität und deren praktisch fehlenden Schutzeffekt. So wurde die im November 1813 von der Tagsatzung deklarierte neutrale Position von den alliierten Mächten ausdrücklich nicht anerkannt, weil das Land – für den österreichischen Generalstabschef Radetzky eine «feindlich gesinnte Provinz» - Frankreich Truppen zur Verfügung stelle. Napoleon seinerseits sicherte dem Schweizer Landammann 1809 zu, den Status zu respektieren, fügte aber angesichts des Krieges mit Österreich hinzu: «Mir gegenüber ist Ihre Neutralität ein Wort ohne Sinn; sie kann Ihnen nur so lange dienen, als ich will.» Der Schweiz mangelte es an Geschlossenheit, Eigenständigkeit und Verteidigungsfähigkeit, zudem auch an Konsequenz. Letzteres illustriert der Rachefeldzug nach Burgund, der nach Napoleons endgültiger Niederlage im Sommer 1815 unternommen wurde und nach 19 Tagen im Chaos zu Ende ging. Die Koalitionsmächte wiederum anerkannten 1815 in Wien die Neutralität der Schweiz und drängten diese fast gleichzeitig in ihr Bündnis hinein, bevor sie dann in Paris die Garantie gemeinsam mit Frankreich bestätigten. – Die heutigen Verhältnisse sind ganz anders; die Rolle der internationalen Macht- und Interessenkonstellation für die Schweiz bleibt aber entscheidend.

Thomas Schuler: Napoleon und die Schweiz. NZZ Libro, Basel 2022. 296 S., Fr. 36.-.