Kolumne

Im Herzen Europas das Herz von Europa werden

von Hans-Jürg Fehr | Oktober 2021
Es ist offenkundig, dass die Europapolitik der Schweiz sich wieder auf zwei Gleisen vorwärtsbewegen muss nicht nur auf dem einen namens Bilateralismus. Das zweite Gleis ist die Rehabilitierung der Option EU-Beitritt.

Um ein institutionelles Rahmenabkommen kommt man einfach nicht herum, wenn man die Bilateralen Verträge pflegen und weiter entwickeln will. Und um die Rehabilitierung der Option EU-Beitritt kommt man auch nicht herum, wenn man über den Tag und den Bilateralismus hinaus strategisch denkend die Interessen der Schweiz vertreten will.

Was die bessere Verwaltung des bestehenden Vertragswerks betrifft, gilt es nach wie vor zwei Imperative zu beachten:

  1. Es braucht einen Mechanismus zur Aktualisierung der Verträge, weil sie alterungsbedingt fortlaufend an Wert verlieren. Wie das gemacht werden könnte, zeigt der bilaterale Schengen-Vertrag. Da ist der Reformweg Schritt für Schritt aufgezeichnet bis hin zu angemessenen Ausgleichsmassnahmen der EU im Falle von Weigerungen der Schweiz, eine Änderung mitzumachen. Wenn das ein von beiden Seiten als tauglich erkannter und akzeptierter Mechanismus im Bereich Sicherheit ist, ist nicht einzusehen, warum er nicht auch bei den Marktzugangsabkommen taugen sollte. Im Hinblick auf die wiederaufzunehmenden Verhandlungen über ein Rahmenabkommen empfiehlt sich daher ein zweistufiges Vorgehen. Zuerst wird der formelle Aktualisierungsmechanismus à la Schengen geregelt, danach werden einzelne materielle Reformen gemäss diesem Mechanismus politisch ausgehandelt und entschieden. So wäre der Weg auch frei für die Aushandlung neuer bilateraler Abkommen, etwa im Strombereich.



  1. Es braucht einen Mechanismus zur Streitbeilegung. Es ist eine rechtstaatliche Selbstverständlichkeit, dass in jedem Vertrag – sei er privater oder zwischenstaatlicher Natur – eine Gerichtsbarkeit bestimmt wird, oft in Form eines von beiden Parteien bestellten paritätischen Schiedsgerichts unter neutralem Vorsitz. Dass ausgerechnet beim wichtigsten internationalen Vertragswerk, das die Schweiz kennt, eine Gerichtsbarkeit bisher fehlt, ist aus rechtsstaatlicher Sicht ein gravierender Mangel, der beseitigt gehört.


Dass sich das Schiedsgericht an Urteilen des Europäischen Gerichtshofs orientieren müsste, hat die Schweiz zu akzeptieren, handelt es sich bei den Bilateralen doch um europäisches Recht, das in der ganzen EU (und im EWR) zur Anwendung kommt und daher einheitlich ausgelegt werden muss. An diesem Punkt der Argumentation ist es hilfreich, an die langjährige Praxis des schweizerischen Bundesgerichts zu erinnern. In einem Bericht an den Bundesrat vom 29. Juni 2011 schrieb es: „Es liegt im Interesse der Schweiz, dass die gleichen Bestimmungen im ganzen Anwendungsbereich der bilateralen Verträge das Gleiche bedeuten. Da die EU im Vergleich zur Schweiz räumlich und personell den weitaus grösseren Bereich abdeckt, entspricht es der seit Jahren etablierten Rechtsprechung des Bundesgerichts, sich so weit als möglich der Rechtsauslegung des EUGh anzuschliessen“. Wenn nun ein paritätisches Schiedsgericht genau dies auch tun würde, gibt es daran nichts auszusetzen.

Den EU-Beitritt rehabilitieren

Die vom Bundesrat herbeigeführte Verhandlungspause sollte unbedingt dazu genutzt werden, um strategisch wieder über den Bilateralismus hinaus zu denken. Insbesondere der EU-Beitritt der Schweiz muss rehabilitiert werden als ernsthaft in die europapolitischen Überlegungen integrierte Option. Ein Blick zurück auf die letzten 15 Jahre Stillstand beweist ja eindrücklich, dass der bilaterale „Königsweg“ zur Sackgasse werden kann und der Schweiz zunehmend Probleme statt Lösungen beschert. Ein Verharren in der Sackgasse wirkt als aussenpolitische Maxime nicht gerade überzeugend.

Den Beitritt rehabilitieren heisst in erster Linie, die Vor- und Nachteile gegenüber dem status quo (und dem Bilateralismus) bilanzieren, in jedem einzelnen Politikfeld, auch und nicht zuletzt unter dem Aspekt Souveränitätsgewinn/Souveränitätsverlust. Den Beitritt rehabilitieren heisst darüber hinaus, die Stellung Europas in der Welt und der Schweiz in Europa neu zu bestimmen. Angesichts der Verhältnisse und Entwicklungen in China, Russland und sogar den USA erweist sich die EU zunehmend als der Teil der Welt, der Demokratie und Menschenrechte, Rechts- und Sozialstaat weitaus am besten mit wirtschaftlichem Wohlstand verbindet.

Die EU ist die Lebensversicherung für die Schweiz, die mit ihr all die genannten Qualitäten teilt, sie ohne die EU aber verlieren würde. Darum gehört es zu den fundamentalen Interessen unseres Landes, die EU zu stärken, gerade auch und weil es sogar innerhalb der Union Staaten gibt, die auf autoritäre Abwege geraten sind. Als Trittbrettfahrerin und Passivmitglied kann die Schweiz dem nur tatenlos zuschauen. Als Mitglied von Verwaltungsrat und Direktion der Lebensversicherungsanstalt EU könnte die Schweiz tatkräftig mithelfen, das zu stärken was ihr selbst am wichtigsten ist. Die Schweiz muss im Herzen Europas das Herz von Europa werden.