Lesetipp

In der ersten Blüte des Multilateralismus

von Christoph Wehrli | Dezember 2023
In den 50 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahmen internationale Konferenzen, Institutionen und Rechtsetzungen einen starken Aufschwung. Wie eine Quellensammlung zeigt, war die Schweiz an diesem Multilateralismus aktiv beteiligt. Sie wurde Sitz internationaler Organisationen, war aber zurückhaltend, wenn es um ihre eigenen sicherheitspolitischen Interessen ging.

Das Denkmal, das an die Gründung des Weltpostvereins in Bern 1874 erinnert, ist ein unübersehbarer Teil des Parks auf der Kleinen Schanze. Und ein Machtinstrument jedes Bahnkondukteurs, der Vierkantschlüssel, heisst auch «Clé de Berne», weil er 1888 an einer Konferenz in der Bundesstadt international standardisiert worden ist. Die Rolle der Schweiz im frühen Multilateralismus kontrastiert scheinbar zu ihrer eher zaghaften Politik im Völkerbund und zu ihrem 57jährigen Zuwarten mit dem Beitritt zur UNO. Madeleine Herren, emeritierte Professorin der Universität Basel, und Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Dodis (Diplomatische Dokumente der Schweiz), geben nun in einer Publikation mit 50 Quellenstücken ein differenziertes Bild jener aussenpolitischen Epoche. Das Heft, das auch als Einstieg in 300 weitere auf dodis.ch zugängliche Dokumente dient, komplettiert eine Trilogie, deren zweiter und dritter Teil (über die Völkerbundszeit und den Weg in die Uno) bereits früher erschienen sind.

Ein liberaler Prozess

Die recht rege Beteiligung der Schweiz an der internationalen Zusammenarbeit im späteren 19. Jahrhundert mag erstaunen, da der junge Bundesstaat gerade in der Aussenpolitik noch schwach instrumentiert war. Dies war jedoch laut Herren und Zala eine günstige Bedingung in einem Kontext, den sie in der Einleitung «liberalen Internationalismus» nennen. Die Entwicklung ging oft von zivilgesellschaftlichen, speziell von wissenschaftlichen Organisationen aus, nichtstaatliche und staatliche Akteure wirkten in einer Grauzone, etwa an Kongressen mit gemischter Teilnehmerschaft, zusammen, und so konnte sich schweizerische Vereinstätigkeit in einem weiteren Rahmen entfalten.

Für den Weltnaturschutz beispielsweise wurde auf einen Vorstoss des Baslers Paul Sarasin am Zoologenkongress in Graz 1910 ein provisorisches Komitee eingesetzt; auf dessen Wunsch sondierte der Bundesrat bei anderen Regierungen bezüglich einer permanenten Kommission, um dann zu einer Konferenz ins Bundeshaus einzuladen. Von Fachtagungen über «Kriminalanthropologie» und Strafrecht werden ausführliche Berichte an den Bundesrat wiedergegeben. Fragen wie die Ursachen von Delinquenz, die Prävention, Sanktionsformen und Schutzaufsicht waren von innenpolitischer Relevanz, zumal 1893 ein erster Entwurf für ein nationales Strafgesetzbuch vorlag (fast 50 Jahre vor Inkrafttreten des Erlasses). Private Initiative führte nicht zuletzt im Spezialfall des Roten Kreuzes zu Völkerrecht und humanitären Strukturen mit offiziellem Mandat. Mit der Regie für die Weiterentwicklung der ersten Genfer Konvention geriet die Schweiz teilweise in Konkurrenz zu den Grossmächten, welche die Frage an allgemeinen Friedenskonferenzen behandeln liessen – 1899 mit mehr Erfolg als vorher die Schweiz.

Mehrfacher Nutzen

Wie weit - neben ihrer Lage - ihre machtpolitische Harmlosigkeit oder, positiver, ihre Neutralität die Schweiz zu einem Sitzstaat von internationalen «Büros» machte, wird in der Publikation nicht explizit gezeigt. Bei den Verwaltungsunionen für Post, Telegraphie und Bahntransport sowie dem Büro zum Schutz des geistigen Eigentums handelte es sich jedenfalls um «technische» Institutionen. Als gerichtliches Zentrum und Ort von Friedenskongressen etablierte sich demgegenüber Den Haag. Dennoch ergab sich für die Schweiz eine diplomatische Aufwertung – und dank der Zuständigkeit für die Zentralstellen die Möglichkeit, ehemaligen Bundesräten (insgesamt sieben) einen von den Mitgliedstaaten gut besoldeten Posten zu verschaffen.

Eine Art Doktrin des Engagements für den Multilateralismus findet sich in einem Schreiben, in dem der aus Deutschland stammende Adolphe Hirsch, Professor in Neuenburg und Sekretär geodätischer Organisationen, 1883 darlegte, weshalb Bern an der Konferenz über den Nullmeridian und die einheitliche Zeitmessung vertreten sein sollte. Neben den inhaltlichen Gründen führte er einen politischen an: Dank ihrer Aktivität und dem Vertrauen der anderen Staaten erhalte die Schweiz allmählich «un rôle important dans le concert des nations civilisées, dans lequel on doit reconnaître une nouvelle et précieuse garantie de son indépendance et sa neutralié».

Pragmatische Politik

In den publizierten Quellentexten zeigt sich zwar eine klare Stossrichtung der Regierungspolitik, weniger jedoch eine konsequent durchgezogene Strategie. Als Numa Droz, ehemaliger Aussenminister und nun Chef des internationalen Eisenbahnamtes, 1897 gebeten wurde, im Protektorat Kreta die Funktion des Gouverneurs zu übernehmen, versuchte der Bundesrat nicht, den Entscheid zu beeinflussen. Droz lehnte aus verschiedenen Gründen ab. Charles Lardy, Gesandter in Paris, hatte angesichts bisheriger Mandate in Schiedsverfahren «vaguement rêvé dans cette mission le commencement d’une ère fort honorable pour notre pays», einer Ära, in der die Schweiz viele Persönlichkeiten für Aufgaben in der völkerrechtlich basierten Friedenssicherung zur Verfügung stellen würde. Diese Idee realisierte sich teilweise in der Zwischenkriegszeit.

Generell setzten die Kapazität oder die politischen Prioritäten der Schweiz ihrer internationalen Präsenz gewisse Grenzen. Von den 30 Kongressen, die im Sommer 1900 während der Weltausstellung in Paris stattfanden, beschickte der Bundesrat einen Drittel. Zur Anregung, dass eine Weltausstellung (auch mit dem Charakter einer Messe) einmal in der Schweiz veranstaltet werden sollte, befragte Bundesrat Droz den Handels- und Industrieverein. Dessen lakonische Antwort: Er halte dies «weder für nothwendig noch für wünschbar», glaube sich damit «in Übereinstimmung» mit Droz und verzichte daher auf nähere Ausführungen.

Sorge um die Souveränität

Recht konstant waren Bedenken wegen der Einschränkung der Souveränität, namentlich etwa in der «heickligen Abrüstungsfrage». Vor der ersten Haager Friedenskonferenz 1899 befürwortete der Bundesrat zwar das Verbot besonders grausamer Geschosse, nicht jedoch eine Begrenzung der Streitkräfte und der Waffenentwicklung. Die Möglichkeiten zur Verteidigung einschliesslich des «Volkskrieges» sollten vollumfänglich gewahrt bleiben. Abgelehnt wurden – anders als an der zweiten Konferenz 1907 - auch Bestrebungen, Fragen der Neutralität «in Diskussion zu setzen». Mit Blick auf eine dritte Friedenskonferenz, die 1915 hätte stattfinden sollen, konstatierte Eugène Borel, Völkerrechtsprofessor und 1907 Delegierter, dass zwar «les relations juridiques ont créé entre les Etats une véritable communauté», dass aber die Tendenz bestehe, von der absoluten Gleichberechtigung aller Staaten abzurücken. Unter diesen Bedingungen sei die Schweiz namentlich auch an einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit nicht interessiert. Anzustreben sei indes eine Kooperation mit gleichgelagerten Staaten.

Den Bestrebungen zu einer präventiven Friedenssicherung setzte der Erste Weltkrieg ein brutales Ende, wenn auch nur vorübergehend. Madeleine Herren und Sacha Zala betonen, dass dieser Ausgang nicht zwangsläufig war. Die Rolle der Schweiz verdient jedenfalls eine Auseinandersetzung, wie sie diese (im Einzelnen naturgemäss diskutable) Auswahl von Dokumenten entscheidend erleichtert.

**************************************************************************

Madeleine Herren und Sacha Zala (Hg.): Die Schweiz und die Konstruktion des Multilateralismus, Bd. 1, Diplomatische Dokumente der Schweiz zur Geschichte des Multilateralismus 1863-1914. Bern 2023. 214 S. Bestellung und Gratis-Download: www.dodis.ch