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Israel-Hamas: Globale Auswirkungen

von Philippe Welti und Daniel Woker | Oktober 2023
Die Auswirkungen des Krieges Israel-Hamas auf die globale Geopolitik sind noch unabsehbar. Ein Flächenbrand im Nahen Osten wäre verheerend; man darf nicht vergessen, dass Israel über Nuklearwaffen verfügt. Sollte der jüdische Staat in seiner Existenz bedroht sein, ist deren Einsatz nicht auszuschliessen.  Einigermassen klar sind immerhin Frontbildungen hinter den zwei Kriegsprotagonisten.  Die USA und Europa stellen sich angesichts von Geschichte und dem diese Krise auslösenden Terrorangriff der Hamas grundsätzlich an die Seite Israels. Der globale Süden, natürlich insbesondere die muslimische Welt, nehmen Partei für die Palästinenser oder gar offen für die Hamas. Im Folgenden werden diese zweiten Fronten hinter den beiden Kriegsparteien beleuchtet, insbesondere speziell aktive und exponierte Länder.

Die westliche Front: die USA und Europa


Die USA: Die USA haben sich sofort nach der terroristischen Attacke der Hamas zur „unverbrüchlichen“ Treue zu Israel bekannt, die Hamas mit schärfsten Worten verurteilt und Israel der bedingungslosen Unterstützung versichert. US-Präsident Biden hat Amerikas Hauptverbündeten im Nahen Osten und dessen Regierungschef Benjamin Netanyahu nach wenigen Tagen besucht und dabei auch in sorgfältig gewählten Worten die Position Israels über die Urheberschaft der katastrophalen Bombardierung eines Spitals in Gaza übernommen. Ausserdem hat er zwei Flugzeugträger-Verbände ins östliche Mittelmeer befohlen, zum Schutz der im Nahen Osten ständig stationierten US-Truppen und um der Parteinahme für Israel auch eine glaubwürdige militärische Dimension zu geben.

Was auf den ersten Blick einer Neuauflage der jahrzehntealten kontroversen Parteinahme für Israel und gegen die Palästinenser, mithin aller Araber, glich, ist aber im heutigen geopolitischen Umfeld anders zu verstehen. So kontrovers die amerikanische Parteinahme zugunsten Israels auf grosse Teile der islamischen Welt wirken mag, dürfte das entschlossene Handeln Washingtons global durchaus respekterheischend erscheinen. Hinter vielen Solidaritätsbekundungen aus dem globalen Süden für die Hamas, vor allem aus islamischen Ländern, ist erkennbar, dass sich abgesehen von den Paria-Staaten Russland und Iran kein Land eine wirkliche Entfremdung von den USA wird leisten können. Eine solche Wirkung lassen bereits Verlautbarungen der chinesischen Führung erkennen, mit denen sich Beijing mit einer zögerlichen „pro-palästinensischen Neutralität“ als Vermittler zu empfehlen sucht. Der Gaza-Krieg wird sich möglicherweise als Lackmustest für die längerfristige Anerkennung der USA als unverändert wirksame globale Führungsmacht erweisen.

Europa und die Schweiz:  Nach dem Terrorangriff der Hamas und  noch vor Präsident Biden hat der deutsche Bundeskanzler Scholz Israel besucht und Unterstützung zugesichert. Aber nicht nur Deutschland, sondern auch Europa kann angesichts des schlimmsten anti-jüdischen Pogroms  seit dem Holocaust gar nicht anders als sich an der Seite Israels  gegen die Hamas  -  wenn auch damit nicht automatisch gegen alle Palästinenser - zu stellen. Ob dies in der Zukunft auch konkreten Beistand, insbesondere Kriegsmaterial umfassen wird, ist noch nicht absehbar, aber auch nicht auszuschliessen.

Dies im Moment, wo die Demokratie Europas  bereits an seiner Ostfront, in der Ukraine, vom totalitären Putin-Regime bedroht ist. Dieser wohl noch einige Zeit andauernde Krieg strapaziert je länger je mehr militärisches Reservematerial und belastet volkswirtschaftliche Aussichten im gesamten Europa, ganz zu schweigen von der monumentalen Aufgabe des Wiederaufbaus der Ukraine nach Beendigung der Feindseligkeiten, eingeschlossenen einer Aufnahme Kiews in die EU.

Ein Wort zur offiziellen Politik der Schweiz. Mit Blick auf den Krieg Israel-Hamas sind zwei Konsequenzen absehbar. Erstens ist nach dem notwendigerweise ausgesprochenen Verbot der Hamas irgendwelche Vermittlung  noch unwahrscheinlicher geworden. Die Schweiz ist allein schon als westeuropäisches Land klar Partei, von «Neutralität» zwischen Israel und Hamas kann keine Rede sein. Zweitens ist nun in der Folge der zusätzlichen Belastung des Westens durch die Krise im Nahen Osten rascher und massiver Beistand der Schweiz an die Ukraine nötiger denn je und wird von der EU und den USA auch eingefordert werden.

Die Front im globalen Süden, insbesondere in der islamischen Welt


Iran: Die Haltung Irans im Krieg Israel-Hamas entspricht an der Oberfläche der Teilhabe des Landes an der muslimischen Welt und erst recht der ideologischen Grundlage der Islamischen Republik seit ihrer Gründung. Zusätzlich spielt im islamischen Lager der Region der alte Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten eine definierende Rolle. In diesem Gegensatz stehen sich das grossmehrheitlich sunnitische Lager von Ägypten bis zum Persischen Golf einerseits und der sog. schiitische Halbmond von Südlibanon über Syrien bis Irak und Iran andererseits gegenüber. Dieser wird von Irans absoluter Ablehnung von Israels Existenzberechtigung dominiert und verfügt im Südlibanon für die unmittelbare Bedrohung Israels mit der radikalislamischen Bewegung der Hisbollah über eine weitaus stärkere militärische Organisation als die Hamas. Bemerkenswerterweise ist die bekannte radikale anti-israelische und anti-amerikanische Rhetorik Irans bis jetzt jedoch nicht von einer tatsächlichen militärischen Eskalation begleitet. Iran schuldet es seiner offiziellen Anti-Israel-Politik, kriegerische Töne anzuschlagen. Dass Teheran im Moment  aber darauf verzichtet, den neu ausgebrochenen Krieg  für eigene Zwecke zu nutzen, dürfte mit dem Respekt vor dem fast global wirkenden Sanktionen-Regime zusammenhängen, dem Iran, zusammen mit seinem neuen Waffenbruder Russland unterliegt.

Die arabischen Staaten: Die arabischen Staaten, speziell die Golfstaaten befinden sich in einem Zwiespalt. Auf der einen Seite hat über die letzten Jahre eine langsame Annäherung an Israel stattgefunden. Dies hat keinen altruistischen, sondern einen interessenbedingten Hintergrund. «Mein Feind ist dein Feind»: Hauptfeind der Sunni-Araber bleibt der schiitische Iran mit dem Anspruch der Mullahs (welche weiterhin die «Ausradierung der zionistischen Entität»  befürworten),  Führungsmacht des Islams zu sein. Zudem sind die beiden Seiten wirtschaftlich komplementär; der Golf  hat Energie und Israel Technologie, was  beides gemeinsam genutzt werden könnte.

Auf der anderen Seite sehen die autoritären Regierungen in den arabischen Ländern nicht ohne heftige innenpolitische Reaktion über das Leiden der Palästinenser hinweg. Da es hier um den Islam geht - und nicht um Demokratie und Menschenrechte, aus ihrer Sicht westliche Werte - können sie es sich nicht leisten, die eigene Bevölkerung mit business as usual vor den Kopf zu stossen. Sprechendes Beispiel dafür war die kurzfristige Absage eines kleinen arabischen Gipfeltreffens mit Präsident Biden in Amman. Diese Geste ist angesichts des darunterliegenden allgemeinen Interesses der meisten arabischen Regierungen an guten Beziehungen mit den USA, der Allzeit-Hegemonialmacht in der Region, erstaunlich, ist aber als Konzession an die Gefühle der «arabischen Strasse», damit auch dem eigenen Machterhalt geschuldet. Die wirkliche Strategie der arabischen Regierungen besteht darin, einen drohenden Flächenbrand zu verhindern.

Saudi-Arabien: Speziell herausgefordert ist Saudi-Arabien. Riad war vor dem Terrorüberfall der Hamas auf dem Weg zur Normalisierung seiner Beziehungen zu Israel. Dies mit Blick auf wirtschaftliche Interessen, aber auch und ganz zentral auf die im Gegenzug zur Anerkennung Israels  erhoffte Sicherheitsgarantie durch die amerikanische Militärmacht im Nahen Osten. Die Saudis haben nun die laufende Annäherung an Israel, gemäss den noch von der Regierung Trump vermittelten sogenannten Abraham-Verträgen suspendiert. Das ist wegen der innerarabischen Solidarität  logisch, stellt aber auch eine Desavouierung dieser Verträge dar. Diese erweisen sich nun eben doch nur als business deals und nicht als nachhaltige Friedensverträge.

Katar: Katar verdient spezielle Erwähnung. Die Hamas hat dort ihr Hauptquartier. Unausgesprochenes quid pro quo ist Duldung, ja geradezu das Hätscheln der Spitzenvertreter der Hamas gegen die Rückversicherung, dafür von  islamistischem Terror verschont zu bleiben. Ein solcher wäre für Doha als Ort internationaler Veranstaltungen, so etwa der Fussball-WM, verheerend. Katar ist kein westliches Land, sondern ein autoritär regierter, einem sehr konservativen Islam anhängender Feudalstaat. Doha hat ausserordentlich heftig zu Gunsten der Hamas Stellung genommen. Dies auch im regionalen Vergleich mit Saudi-Arabien oder mit den Emiraten. Man kann wohl davon ausgehen, dass die katarische Vermittlung zur Freilassung von zwei amerikanischen Geiseln vor dem Hintergrund des Nahverhältnisses mit der Hamas zu sehen ist.

Laut verschiedenen  Berichten finanziert Katar auch den zivilen «Staatshaushalt» der Hamas in Gaza, was dieser erlaubt, von anderswo zufliessende Mittel, etwa aus dem Iran, für Kriegsmaterial zu verwenden. Dies wird allerdings von den Katari pauschal dementiert.

Die islamischen Staaten in Südasien und Südostasien


Mit Ausnahme Indiens besteht hier ebenfalls ein grundsätzlicher Zwiespalt zwischen Wirtschaftsinteressen und Solidarität mit den palästinensischen Glaubensbrüdern.

Pakistan: Pakistan befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise, gekoppelt mit hoher Verschuldung gegenüber China in der Folge von Projekten im Rahmen von Beijings Belt and Road Initiative. Die Militärregierung, welche den populären Imran Khan als gewählten Premier abgesetzt hat und ihn auch gerichtlich verfolgt, muss sich damit unter den finanziellen Schirm des Internationalen Währungsfonds IMF stellen und versucht, vermehrt westliche Investitionen anzuziehen. Andererseits nimmt die Bevölkerung selbstverständlich für die Palästinenser Partei, hat sich Khan mit religiösen Parteien verbündet und droht der im eigenen Lande allgegenwärtige islamistische Terror.

Indien: In deutlichem Kontrast dazu steht Indiens Position. Immerhin zählt zur indischen Nation auch ein muslimischer Bevölkerungsanteil von rund fünfzehn Prozent oder etwa zweihundert Millionen, die damit für sich allein bereits das zweit- oder drittgrösste islamische Land der Welt wären. Indiens Premierminister Modi hat nun  mit einer  Positionierung überrascht, die vorbehaltlos für Israel Stellung bezieht und damit einer Kehrtwende der traditionellen indischen Aussenpolitik gleichkommt. Einer der Gründe dürfte die erstaunlich weit gediehene militärische und rüstungsindustrielle Kooperation mit Israel sein. Darüberhinaus verzichtet Modi offensichtlich auch auf zweideutige Rücksichtnahmen auf die islamische Welt; er scheint damit bereits anzudeuten, dass er für die Wahlen im nächsten Jahr für ein drittes Regierungsmandat den muslimischen Bevölkerungsteil im eigenen Land wahlarithmetisch zu ignorieren gedenke, dies aus hindu-ideologischen Gründen, die zum grössten Antrieb seiner ganzen Politik geworden sind. Aussenpolitisch schlägt sich Modi damit recht bedingungslos ins westlich angeführte pro-Israel-Lager.

Malaysia: In Südostasien tritt traditionell Malaysia als Unterstützer der Hamas auf und hat entsprechend heftig für diesen und gegen Israel Stellung genommen. Das offiziell multireligiöse Land, mit bedeutenden indischen und vor allem chinesischen Minderheiten, gibt sich äusserlich immer stärker konservativ-islamisch. Die in verschiedener Zusammensetzung regierenden Parteien der islamischen Mehrheit der Bevölkerung wetteifern unter sich, möglichst konservativ zu erscheinen, um nicht von extrem-islamischen Kleinparteien verdrängt zu werden. Wie weit der Beistand Malaysias für die Hamas reicht, ist unklar. Die grösste Moschee im Gazastreifen, im Rahmen der Bombenangriffe Israels bereits zerstört, wurde von Kuala Lumpur finanziert. Laut verschiedenen Meldungen werden seit langen Jahren auch Hamas-Kämpfer in Malaysia selbst ausgebildet.

Indonesien: Der Islam von Indonesien ist traditionell gemässigt; das grösste und bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt - die hinduistische Insel Bali bildet die kleine Ausnahme - bemüht sich um eine moderne Interpretation des Islams und sieht sich im Gegensatz zu den konservativen arabischen Religionslehren in einer globalen Vorreiterrolle. Aber auch Jakarta muss auf starke pietistisch-islamische Strömungen im Land Rücksicht nehmen; die Dekade des islamistischen, teilweise autochthonen Terrors, welche im Tourismus aber auch im indonesischen Selbstverständnis tiefe Spuren hinterlassen hat, ist unvergessen.

Was aber auch bedeutet, dass der Terrorangriff der Hamas auf Israel zumindest offiziell nicht gutgeheissen, sondern verurteilt wird. Vor dem Hintergrund von traditionell tiefem Misstrauen gegenüber China - was auch mit der kleinen aber reichen chinesischstämmigen Minderheit im Lande und deren mögliche Instrumentalisierung durch Beijing zu tun hat - bemüht sich Indonesien um konfliktfreie Beziehungen zum Westen. Welcher natürlich auch für Wirtschaft und Finanzen Indonesiens von grosser Bedeutung ist. Aktueller Ausdruck ist die Bewerbung Jakartas um Mitgliedschaft in der OECD, die traditionell als «Club des reichen Westens» gilt.

Vermittlung?


Als Erster hat Putin versucht, sich als Vermittler zwischen Hamas und Israel ins Gespräch zu bringen. Trotz gewissen Verbindungen zu Israel - russische Emigranten in Israel auf der rechten Seite des politischen Spektrums und Technologieaustausch auch im militärischen Bereich - ist das Russland Putins einmal zu stark mit der Hamas verbunden, und ist er selbst wegen der Ukraine so klare «Unperson», dass eine Vermittlung kaum möglich erscheint.

China würde liebend gern den globalen Friedensbringer spielen, zumal im Mittleren Osten, wo Beijing kürzlich mit der Regelung der offiziellen Beziehungen zwischen Riad und Teheran einen unbestreitbaren Erfolg erzielt hat. Aber auch hier ist kein Vermittlungserfolg absehbar. China, mit seinen eigene Wirtschaftsproblemen schwer belastet,  ist erstens - wir haben es bereits erwähnt - zu vorsichtig, um sich im traditionellen, nahöstlichen Spiel mit dem Feuer die Finger zu verbrennen, verfügt zweitens über keine militärischen Ressourcen, um dort wenn nötig auch Zwang auszuüben und dürfte drittens für Washington, den  Hauptunterstützer Israels nicht akzeptierbar sein.

Wenn überhaupt, kann Vermittlung nur aus der Region selbst erfolgen. Ägypten und allenfalls die Türkei erscheinen als Möglichkeiten. Katar wird weiterhin versuchen, seine Position als Hauptunterstützer der Hamas mit Bemühungen zur Geiselfreilassung zu kompensieren.

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Philippe Welti und Daniel Woker, beide ehemalige Schweizer Botschafter, sind Co-Gründer des privaten Beratungsunternehmens  «Share-an-Ambassdor /Geopolitik von Experten, www.swiss-ambashare.ch