Lesetipp
Joëlle Kuntz: Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit
von Rudolf Wyder
| August 2014
Das Büchlein kommt genau zur richtigen Zeit. Nach dem 9. Februar können wir uns nicht mehr um die Aufgabe
drücken, unsere Position in Europa neu zu bestimmen. Soll dies nicht auf ausgetretenen Pfaden erfolgen (und
damit vorhersehbar fruchtlos verlaufen), ist eine Überprüfung unserer Optik angezeigt. Genau dazu gibt der
kluge Essai von Joëlle Kuntz Anstoss, Anleitung und Food for thought.
Kuntz, Leitartiklerin der Westschweizer Zeitung Le Temps, führt uns kenntnisreich vor Augen, was eigentlich
evident, im helvetischen Diskurs indes eigenartig abwesend ist: dass unsere Geschichte nicht minder eine
Geschichte der Abhängigkeiten als eine solche der Unabhängigkeit ist. Weshalb sich dessen schämen? Warum
sich der Evidenz verweigern? Und mit welchen Folgen?
Aus dieser kleinen, aber entscheidenden Verschiebung der Perspektive ergeben sich – für viele wahrscheinlich
überraschende – Einsichten: Schweizerische Aussenpolitik war nie etwas anderes als das Management
wechselseitiger Abhängigkeiten. Dabei hat die Eidgenossenschaft reiche Verhandlungserfahrung gesammelt und
beachtliche Geschicklichkeit entwickelt, um mit Abhängigkeiten umzugehen und den eigenen
Bewegungsspielraum zu optimieren. Gemeinsames über Trennendes zu stellen, im Innern wie nach aussen, ist
beste eidgenössische Tradition.
Für grosse und erst recht für kleine Staaten bedeutet die rasch voranschreitende Globalisierung, dass der
Spielraum für autonomes Schalten und Walten enger wird. Nationalstaaten tun sich deshalb zusammen, um
gemeinsam globalen Herausforderungen zu begegnen. Zu oft wird vergessen, dass die Schweiz dabei einstmals
Pionierin war – man denke an Weltpostverein, OTIF, IKRK oder den Genfer Völkerbund.
Kuntz verkennt nicht, dass sich das schweizerische Nationalbewusstsein in der Abgrenzung gegenüber den
Nationalismen unserer Nachbarstaaten, an deren Kulturraum wir partizipieren, herausgebildet hat. Aber sie
macht plausibel, dass der Abgrenzungsreflex keine adäquate Antwort sein kann auf die kontinentale Integration,
der sich die Schweiz nicht nur nicht entziehen kann, sondern an dem sie – selbstverständlich – auf vielfältige
Weise teilhat und von dem sie keineswegs nur ökonomisch profitiert.
Der Autorin ist zweifellos zuzustimmen: unsere Fokussierung ist zu hinterfragen. Am Anfang des 21.
Jahrhunderts und inmitten des sich einigenden Europa kann «Unabhängigkeit» nicht die ausschliessliche
Kategorie sein. Es sei denn, man wolle sich aus der Geschichte verabschieden. Interdependenz ist längst Realität,
Tendenz rapid zunehmend. Eine Justierung der Optik tut dringend not.
Und was sagt dazu die Bundesverfassung? «Die Schweizerische Eidgenossenschaft», so ihr Zweckartikel,
«wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes» und «setzt sich für eine friedliche und gerechte
internationale Ordnung» ein. Wer nur Abgrenzung im Kopf hat, findet also weder in der Geschichte noch in der
Verfassung unseres Staatswesens eine Rechtfertigung.
Wo sind die politischen Kräfte, fragt man sich am Ende der überaus anregenden Lektüre, wo sind die beherzten
Akteure, die den Impuls aufnehmen und – statt elektoralem Opportunismus zu frönen – nachhaltige Strategien
entwickeln, die unserem in der Vergangenheit so erfolgreichen Land einen seiner Geschichte würdigen,
erfolgversprechenden Weg in die Zukunft weisen?
Joëlle Kuntz, La Suisse ou le génie de la dépendance, Editions Zoé, Genève 2013; eine deutsche Übersetzung
erscheint im August 2014 im NZZ-Verlag.
drücken, unsere Position in Europa neu zu bestimmen. Soll dies nicht auf ausgetretenen Pfaden erfolgen (und
damit vorhersehbar fruchtlos verlaufen), ist eine Überprüfung unserer Optik angezeigt. Genau dazu gibt der
kluge Essai von Joëlle Kuntz Anstoss, Anleitung und Food for thought.
Kuntz, Leitartiklerin der Westschweizer Zeitung Le Temps, führt uns kenntnisreich vor Augen, was eigentlich
evident, im helvetischen Diskurs indes eigenartig abwesend ist: dass unsere Geschichte nicht minder eine
Geschichte der Abhängigkeiten als eine solche der Unabhängigkeit ist. Weshalb sich dessen schämen? Warum
sich der Evidenz verweigern? Und mit welchen Folgen?
Aus dieser kleinen, aber entscheidenden Verschiebung der Perspektive ergeben sich – für viele wahrscheinlich
überraschende – Einsichten: Schweizerische Aussenpolitik war nie etwas anderes als das Management
wechselseitiger Abhängigkeiten. Dabei hat die Eidgenossenschaft reiche Verhandlungserfahrung gesammelt und
beachtliche Geschicklichkeit entwickelt, um mit Abhängigkeiten umzugehen und den eigenen
Bewegungsspielraum zu optimieren. Gemeinsames über Trennendes zu stellen, im Innern wie nach aussen, ist
beste eidgenössische Tradition.
Für grosse und erst recht für kleine Staaten bedeutet die rasch voranschreitende Globalisierung, dass der
Spielraum für autonomes Schalten und Walten enger wird. Nationalstaaten tun sich deshalb zusammen, um
gemeinsam globalen Herausforderungen zu begegnen. Zu oft wird vergessen, dass die Schweiz dabei einstmals
Pionierin war – man denke an Weltpostverein, OTIF, IKRK oder den Genfer Völkerbund.
Kuntz verkennt nicht, dass sich das schweizerische Nationalbewusstsein in der Abgrenzung gegenüber den
Nationalismen unserer Nachbarstaaten, an deren Kulturraum wir partizipieren, herausgebildet hat. Aber sie
macht plausibel, dass der Abgrenzungsreflex keine adäquate Antwort sein kann auf die kontinentale Integration,
der sich die Schweiz nicht nur nicht entziehen kann, sondern an dem sie – selbstverständlich – auf vielfältige
Weise teilhat und von dem sie keineswegs nur ökonomisch profitiert.
Der Autorin ist zweifellos zuzustimmen: unsere Fokussierung ist zu hinterfragen. Am Anfang des 21.
Jahrhunderts und inmitten des sich einigenden Europa kann «Unabhängigkeit» nicht die ausschliessliche
Kategorie sein. Es sei denn, man wolle sich aus der Geschichte verabschieden. Interdependenz ist längst Realität,
Tendenz rapid zunehmend. Eine Justierung der Optik tut dringend not.
Und was sagt dazu die Bundesverfassung? «Die Schweizerische Eidgenossenschaft», so ihr Zweckartikel,
«wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes» und «setzt sich für eine friedliche und gerechte
internationale Ordnung» ein. Wer nur Abgrenzung im Kopf hat, findet also weder in der Geschichte noch in der
Verfassung unseres Staatswesens eine Rechtfertigung.
Wo sind die politischen Kräfte, fragt man sich am Ende der überaus anregenden Lektüre, wo sind die beherzten
Akteure, die den Impuls aufnehmen und – statt elektoralem Opportunismus zu frönen – nachhaltige Strategien
entwickeln, die unserem in der Vergangenheit so erfolgreichen Land einen seiner Geschichte würdigen,
erfolgversprechenden Weg in die Zukunft weisen?
Joëlle Kuntz, La Suisse ou le génie de la dépendance, Editions Zoé, Genève 2013; eine deutsche Übersetzung
erscheint im August 2014 im NZZ-Verlag.
Kolumne
Le franco-allemand à l’aube des Européennes
von Gilbert Casasus | Mai 2024
Vom 6. bis 9. Juni wählen die Bürger der Europäischen Union das EU-Parlament. Eine gewichtige europäische Institution, deren Entscheide auch die Schweiz betreffen werden. Erwartet wird ein Rutsch nach rechts, eventuell eine Beteiligung der bisher auf Armeslänge gehaltenen extremen Rechten an der Mehrheit, welche über die Präsidentschaft der EU-Kommission entscheiden wird. SGA-Mitglied Gilbert Casasus wirft einen Blick auf das nicht mehr selbstverständliche Zusammenspiel zwischen Frankreich und Deutschland.
Veranstaltungsbericht
Tag der Aussenpolitik 2024; Alternativen zum Rückzug in einer instabilen Welt
von Christoph Wehrli | April 2024
Die Zukunft Europas, die Rolle des humanitären Völkerrechts und das Verhalten der Schweiz in den grossen Krisen der Welt: Das Themenspektrum am Tag der Aussenpolitik der SGA-ASPE war breit. Die verbindende Grundaussage lautet: Gerade in der gegenwärtigen «Polykrise» bieten Strukturen für gemeinsames Handeln, universale menschliche Werte und ein entsprechendes schweizerisches Engagement Perspektiven und sind zu stärken....
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