Mit neuen Visionen gegen die Sinnkrise der EU

von Christoph Wehrli | Dezember 2015
Günter Verheugen, früherer Vizepräsident der Europäischen Kommission, führt die Krise der EU auf weltpolitische Veränderungen und einen Mangel an gemeinsamen Perspektiven zurück. In seinem Vortrag, den er auf Einladung der SGA an der Universität Bern gehalten hat, forderte er eine konsequent nur subsidiäre, zugleich auf globaler Ebene mitbestimmende Union.

Mit der Krise der EU ist heute meistens die Unsicherheit gemeint, ob die Union Herausforderungen wie wirtschaftliche Stagnation, die Überschuldung Griechenlands und den Zustrom von Flüchtlingen meistern kann. Günter Verheugen, von 1999 bis 2010 Mitglied der EU-Kommission, hatte schon 2005 ein Buch mit dem Titel «Europa in der Krise» publiziert. In der «Aussenpolitischen Aula» der SGA blickte er denn auch über die aktuelle Situation hinaus und in die Zeitgeschichte zurück. Er rief in Erinnerung, dass die Grundlage der europäischen Integration nicht nur der Wille war, aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs Lehren zu ziehen, sondern auch die Absicht, ein Bollwerk gegen die Expansion des sowjetischen Kommunismus zu schaffen – was Prosperität und die Einbindung Deutschlands voraussetzte.

Das Ende der Ost-West-Konfrontation liess dementsprechend den Konsens über den Sinn der EU teilweise schwinden. Hinzu kamen die Auswirkungen der Globalisierung, die viele Menschen etwas suchen liessen, woran sie sich festhalten könnten – und dies war eher der nationale Rahmen als die schwer durchschaubare supranationale Konstruktion, deren Politik keine direkte Verbindung zu den Bürgerinnen und Bürgern hat.

Viele Krisen gleichzeitig

Diese Schwäche fällt in eine Zeit, in der Europa in der Welt an den Rand zu geraten droht. Verheugen vermisst zum einen den Willen, mit Innovation den wirtschaftlichen Vorsprung zu behalten, wirft der EU zum andern vor, «schuldhaft» darauf zu verzichten, auf ein weltpolitisches Gleichgewicht hinzuwirken und globale Kooperation möglich zu machen. Im Einzelnen kritisierte er die «Konstruktionsfehler» der Währungsunion, die «unerträgliche Dauerarbeitslosigkeit», die zu vermindern das Wirtschaftswachstum in den nächsten zwei Jahren nicht ausreichen dürfte, das «Desaster» des Politik gegenüber der Ukraine, die von Deutschland ausgelöste Diskussion über einen «Grexit» und die erst späte Antwort auf die Fluchtbewegungen, die an sich nicht überraschend gekommen seien.

Verheugen würde sich eine Kraft wünschen, die eine Vorwärtsstrategie anbieten und durchsetzen könnte, doch eine solche kann er insbesondere in den politischen Führungen Deutschlands und Frankreichs überhaupt nicht erkennen. Es gehe dabei nicht um «mehr Europa», wie die Standard-antwort laute; eine solche Politik würde gerade als Bedrohung empfunden. Vertrauen entstünde vielmehr durch «puristische» Befolgung des Subsidiaritätsprinzips bis hin zur Rückgabe von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten und durch Abbau der bürokratischen Apparate. Gleichzeitig sollte die EU eine gesamteuropäische Perspektive gewinnen, etwa die einer Wirtschaftszone «von Lissabon bis Wladiwostok», und sie sollte neue, flexiblere Integrationsformen anbieten.

Ausdrücklich teilte der Europapolitiker und –analytiker den Optimismus derer nicht, die einfach darauf verweisen, dass die EU schon manche Krise überwunden habe. Er sieht indessen viele Handlungsmöglichkeiten, um das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der Union wiederherzustellen und diese so zu stärken, dass «wir die europäische Lebensform auch unter dem Druck der Globalisierung bewahren» können.

In der anschliessenden Diskussion mit dem Publizisten Jacques Pilet und dem früheren SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr nahm Verheugen zu diversen Fragen ebenfalls klar Stellung. Er bezeichnete die Transformation der ostmitteleuropäischen Staaten als unumkehrbar – es sei normal, dass es in jungen Demokratien noch gäre -, er zeigte sich skeptisch gegenüber der Möglichkeit einer supranationalen (direkten) Demokratie, da sie eine europäische Öffentlichkeit voraussetzen würde, forderte ein Abrücken Deutschlands von prinzipieller Austeritätspolitik und Exportmaximierung und vertrat mit Nachdruck seine Meinung, dass die EU die Türkei mehr denn je brauche, und zwar als Rollenmodell für islamische Staaten des arabischen Raums.