Potenzial für einen Weltbürgerkrieg der Werte

von Christoph Wehrli | November 2018
Der Historiker Thomas Maissen deutet den Aufschwung des Nationalismus als Teil einer innergesellschaftlichen, aber grenzüberschreitenden Polarisierung zwischen individualistischen und kollektivistischen Werten. Daraus könnte sich ein «Weltbürgerkrieg», auch um Ressourcen, ergeben.

Die politischen Tendenzen in mehreren europäischen Ländern und den USA lassen Vergleiche mit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg aufkommen. Der Schweizer Geschichtsprofessor Thomas Maissen, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, hielt in der ersten Aussenpolitischen AULA des Zyklus 2018/19 in Bern zwar fest, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, dass die Betrachtung vergangener Prozesse uns nur helfen könne, für die Vielzahl möglicher Zukünfte offen zu sein und Vorkehren zu treffen. Er kann sich aber eine Eskalation der antiliberalen und nationalistischen Entwicklungen bis hin zu einem dritten Weltkrieg durchaus vorstellen.

Anspruch auf das «wahre» Volk
Maissen sieht eine Analogie zu den Bürgerkriegen, aus denen im 19. Jahrhundert Nationalstaaten wie Deutschland und Italien, die moderne Eidgenossenschaft und der gestärkte amerikanische Bundesstaat hervorgingen. Es waren unterschiedliche Vorstellungen von Staatlichkeit aufeinandergeprallt. Den etwas schillernden Begriff «Weltbürgerkrieg» verwendet er allerdings nicht wie einige konservative Historiker im Sinn der ideologisch bestimmten Konfrontationen des 20. Jahrhunderts, sondern ausgehend von dem gegenwärtig auffallenden Phänomen, dass der innenpolitische Gegner zum existenziellen Feind gemacht wird. Demokratie soll dann nicht politische Konkurrenz und Wechsel in der Verantwortung ermöglichen, sondern eine autoritäre Herrschaft bestätigen. Illiberale, in einem präzisen Sinn populistische Anführer betonen die angebliche Einheit des «wahren» Volks und beanspruchen für sich allein die wahre Vertretung von dessen Interessen. Die Devise «America first», sagte der Referent, richte sich insofern nicht in erster Linie gegen aussen, sondern gegen jene, die eine andere Haltung vertreten. Bekämpft werden Pluralismus, Minderheitenschutz, rechtsstaatliche Begrenzungen sowie kritische Angehörige von Eliten, wobei die neuen Medien die Polarisierung noch fördern.

Kampf um die globale Politik
Paradoxerweise suchen viele nationalistische Parteien eine europäische Zusammenarbeit. Ihr einziges gemeinsames Anliegen könnte die Schwächung oder Zerschlagung der europäischen Institutionen sein. In Maissens Augen geht es ihnen jedoch eher um die Durchsetzung bestimmter Werte im Rahmen des Gegensatzes zwischen Individualismus und Kollektivismus. Auf der einen Seite stehen Rechtsstaatlichkeit, formale Gleichheit, Wahlfreiheiten gerade auch im Bereich von Sexualität und Familie, auf der anderen Geborgenheit und eine «natürliche» Lebensordnung für Familie und Volk. Individualisten befürworten globale Strukturen und zeigen Verständnis für Migranten, während Kollektivisten gleichsam ihren Stamm verteidigen und gesellschaftlicher Homogenität nachhängen.

Nochmals zurückblickend auf 1848, als in der Schweiz Gegensätze zwischen Kantonen in Gegensätze zwischen staatspolitischen Positionen oder Parteien übergingen, interpretierte Maissen die gegenwärtigen Konflikte weniger als nationalistischen Kampf gegen die Globalisierung, sondern als Machtkampf um deren Ausgestaltung, mit Perspektive auf einen «Weltbürgerkrieg der Werte». Ökonomisch handle es sich um eine transnationale Allianzbildung für den zu erwartenden globalen Kampf um Ressourcenzugang. Seinen pessimistischen Ausblick ergänzte und relativierte Maissen mit dem Hinweis auf die Gefahr einer deterministischen Sicht, in der das Handeln entsprechend eingeengt wird.

Laboratorium Schweiz
In der von Ursula Hürzeler geleiteten Diskussion hielt Maissen am kulturell-politischen Charakter der Auseinandersetzung fest. Als Faktoren seien die russische Annexion der Krim und die Flüchtlingsströme 2015 wichtiger gewesen als die Finanzkrise von 2008. Hans-Jürg Fehr, SGA-Vorstandsmitglied und früherer SP-Nationalrat, betonte demgegenüber den Sozialabbau im Zuge der deutschen Agenda 2010 und die schwere soziale Krise, die in Italien seit zehn Jahren herrsche. Dabei sei die EU, deren Existenz einen wesentlichen Unterschied zu den 1930er Jahren bedeute, in eine negative Rolle, einen Widerspruch zu ihrer ausgleichenden Aufgabe, geraten. Fehr trat im Weiteren dafür ein, die – in der Schweiz relativ früh erstarkten – Nationalisten durch Nichtkooperation zu isolieren. Die Ablehnung der Selbstbestimmungsinitiative sei ein gutes Beispiel dafür.

Patrick Dümmler, Forschungsleiter von Avenir Suisse (Mitveranstalter des Abends), plädierte für Diskussion statt Ausgrenzung. Er vertraut darauf, dass sich die Populisten in konkreten Bewährungsproben selber entzaubern und das Volk in der Schweiz auf dem Weg der pragmatischen Offenheit bleibt, den es bisher mit wenigen Ausnahmen gegangen sei. Alle drei Teilnehmer setzen grundsätzlich auf einigermassen funktionierende zwischen- und überstaatliche Institutionen (Uno, EU, WTO). - Wohl zu kurz kam die Frage, ob einfach der für richtig gehaltene Pol gestärkt werden soll und wie der Polarisierung als solcher entgegengewirkt werden kann.