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Schweizer Neutralität

von Hans-Rudolf Isliker* | Juni 2023
Die Schweizer „Neutralitätsideologie“ ist zu hinterfragen. Ihre Fragwürdigkeit zeigt sich deutlich am Beispiel des nun schon über ein Jahr dauernden Ukraine-Krieges, dem unbestritten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine (der, strenggenommen, schon mit der Annexion der Krim begonnen hatte).

Die Schweiz trägt zwar internationale Sanktionen gegen Russland mit. Sie weigert sich aber kategorisch, schweizerisches Kriegsmaterial freizugeben, das im Rahmen von Rüstungsgeschäften ins Ausland, zum Beispiel. nach Deutschland, geliefert worden war unter der Bedingung, lediglich für die eigene Verteidigung des Käuferstaates verwendet zu werden. Es darf nicht an einen Drittstaat weitergeben werden, der sich, wie im Fall der Ukraine, im Abwehrkampf gegen einen völkerrechtswidrigen, brutalen Angreifer befindet, um dessen Verteidigungskraft zu unterstützen.

Seine Haltung begründet der Bundesrat nicht nur mit dem jüngst noch verschärften Kriegsmaterialausfuhrgesetz, sondern auch der immerwährenden Neutralität der Schweiz, die sich auf internationales Neutralitätsrecht, als Teil des Völkerrechts, stütze, welches auf die Haager Konventionen von 1907 zurückgeht.

Bei näherer, unvoreingenommener, Betrachtung kommt jede Menge Ungereimtheit zum Vorschein:

Der Bundesrat stützt sich ausdrücklich auf das Neutralitätsrecht der Haager Konventionen von 1907 die vom neutralen Staat die Gleichbehandlung beider Kriegsparteien fordern, was einen Angreifer auf die gleiche Stufe stellt wie den Betroffenen, der sich wehrt. Mit der Ächtung des Angriffskriegs (durch den Völkerbund, den Briand-Kellogg-Pakt und die Uno-Charta) ist  das Völkerrecht längstens über eine aus heutiger Sicht unverständliche  Regelung hinweggekommen, die wohl nur mit der machtpolitischen Konstellation im ersten Weltkrieg erklärt werden kann.

  • Die Schweiz legitimiert ihre immerwährende Neutralit aus der neutralitätsrechtlichen Verpflichtung zur Selbstverteidigung, Die „bewaffnete Neutralität“ basiert jedoch auf einer Armee, welche in der heutigen geopolitischen Lage und der europäisch-transatlantischen Sicherheitsarchitektur (NATO) auf sich allein gestellt keine Chance hätte, eigenständig rein militärisch wenig Sinn machte und wenig relevant wäre (als schnell mobilisierungsfähige zentrale Sicherheitsvorsorge gegen überraschende vitale Bedrohungen jeglicher Art des Staates und seiner Bevölkerung macht eine Armee dagegen Sinn – was ja eine allgemeine Wehrpflicht rechtfertigt). Gegen einen potenziellen militärischen Angreifer müsste die Schweiz sich zusammen mit gleichzeitig bedrohten Nachbarn wehren, in ihrer geografischen Lage sowieso, womit man sicher nicht mehr neutral sein könnte. Doch unsere bewaffnete Neutralität wird noch heute als das Erfolgsrezept mystifiziert, um im Zweiten Weltkrieg einigermassen ungeschoren davon gekommen zu sein – obschon man längst weiss, dass sich die Schweiz damals pragmatisch situativ und mit Glück in einer Art durchwurstelte, die mit der heute hochstilisierten Neutralität wenig bis nichts zu tun hatte.

  • Die Rüstungsindustrie bringt die Schweiz offensichtlich in ein Dilemma, aus dem die Neutraität nicht hinausführt. Ohne eigene Rüstungsindustrie hätten wir das heutige Problem mit der Ukraine nicht am Hals. Andrerseits sollte sie sich auf dem Weltmarkt bewähren können. Also muss sie auf dem Weltmarkt erfolgreich sein wollen/dürfen und dafür ihre Erzeugnisse exportieren können. Die Qualität solcher Exportgüter zeigt sich zuverlässig aber nur in wirklichkeitsnaher Anwendung. Muss also die Schweizer Rüstungsindustrie interessiert daran sein, ihre Produkte in Kriegssituationen getestet zu sehen? An kriegführende Kunden darf sie von Gesetzes wegen nicht direkt liefern; umso mehr müsste sie doch die indirekte Anwendung suchen


Übrigens, was würde die Schweiz tun, wenn Deutschland kaltlächelnd in der Schweiz gekaufte Munition an die Ukraine weitergäbe und zudem erklärte, als Waffenlieferant komme die Schweiz künftig nicht mehr in Frage?

  • Neuerdings erscheint die Schweizer Neutralität sogar „doppelt geknüpft“. Neben dem nationalistischen, souveränitätsbesessenen Neutralitätsmythos, Farbe Gelb (wie das Sünneli) gibt es die pazifistische Neutralität, grün eingefärbt durchaus mit einer nachvollziehbaren Logik. Damit wird das Dilemma noch deutlicher: In der idealistischen „grünen Logik“ (Frieden und Gerechtigkeit) sind Armee und Rüstungsindustrie unerwünschte Überbleibsel einer kriegerischen Vergangenheit, die keinesfalls wiederkehren sollte. In der knallharten gelben Logik (Souveränität, die Anderen gehen uns nichts an) sind selbstverständlich Armee und eigene Rüstungsindustrie Standbeine des immerwährenden Souveränitäts- und Neutralitätsanspruchs.

  • Ein völkerrechtlich gestütztes Neutralitätsrecht braucht es nicht mehr, weil es niemanden vital interessiert. Vermutlich hält nur noch die Schweiz daran fest. st deshalb der Bundesrat gezwungen, auf dem Haager Abkommen von 1907 zu beharren? In der heutigen geopolitischen Konstellation, mit dem aktuellen Stand des Völkerrechtes und dessen Handhabung in der UNO, welche das Abbild einer Weltgemeinschaft in ständigem Konflikt zwischen gemeinsamer Betroffenheit von globalen Krisen (Klimaveränderung) und kompromissloser Interessenpolitik der Grossmächte (sowie vieler autoritärer Regime) repräsentiert, macht Neutralitätsrecht offensichtlich keinen Sinn – es fehlt ihm die „innere Logik“.


Wenn es für alle anderen Staaten vermutlich keine Bedeutung hat, benötigt die schweizerische Neutralitätspolitik aussenpolitisch gar kein internationales Neutralitätsrecht. Nur Für die staatstragenden Nationalpopulisten macht es irgendwie Sinn, ihren Neutralitätsmythos national explizite in der Verfassung zu verankern – aus rein innenpolitischen Gründen, für das Seelenheil, als zentrales Identitätsmerkmal einer auf niemanden angewiesenen Schweiz. Das ist der Mythos. In  in Tat und Wahrheit hat die Schweiz ihre Neutralität politisch immer pragmatisch betrieben - nicht von Recht abgeleitet, sondern in Abhängigkeit  von den Interessen und der Akzeptanz der Anderen, namentlich der Grossmächte.

*Hans Rudolf Isliker ist dipl. Bauingenieur ETHZ mit Nachdiplom in Raumplanung, ehem. Stv. Direktor des Bundesamtes für Verkehr und Generaldirektor des Zentralamtes für den internationalen Eisenbahnverkehr OCTI (heute Generalsekretariat der zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr OTIF)