Lesetipp

Schweizer Neutralität: Sind 400 Jahre genug?

von Christoph Wehrli | April 2023
Der Historiker Marco Jorio erfasst die 400-jährige Geschichte der Schweizer Neutralität in einem geradezu enzyklopädischen Band. Die differenzierte Darstellung eines insgesamt lange erfolgreichen Verhaltens mündet in eine Kritik am Verharren in Mustern, die heute nicht mehr zu den Rahmenbedingungen passten.

Die Diskussion über eine aussenpolitische Neuorientierung der Schweiz kann eine Klärung des Geflechts von historischen Fakten, Interpretationen und Mythen um die Neutralität gut brauchen. Der neunbändige Klassiker von Edgar Bonjour reicht nur bis 1946, und seit dessen Publikation von 1965 bis 1976 sind zahlreiche Studien und neue Sichtweisen hinzugekommen. Marco Jorio, der von 1988 bis 2014 die Arbeit am Historischen Lexikon der Schweiz geleitet hat, bietet nun in dichter, fast gedrängter Form eine Geschichte der Schweizer Neutralität mitsamt ihren Bezügen zum machtpolitischen Umfeld des Landes, zu Völkerrecht und Ideologie. Trotz Erscheinungszeitpunkt (nach Abschluss «unter Hochdruck») und trotz einem politischen Ausblick handelt es sich um kein Thesen-Buch. Die genaue Betrachtung von Entwicklungen, Krisen und Kontexten dürfte allerdings schon als solche gewisse Bilder von einer ehernen Neutralität relativieren.

Wiederkehrende Themen

In der geschichtlichen Darstellung lassen sich neben allen Wendungen und Windungen allerdings auch Elemente erkennen, die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder eine Rolle spielten. Nachdem die Eidgenossenschaft im Lauf des 16. Jahrhunderts ihre territorialen Grenzen ungefähr erreicht hatte, hielt sie sich, auch wegen ihrer eigenen konfessionellen Spaltung, aus dem Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) heraus und verfestigte sich zugleich als einigermassen souveränes Gebilde. Dieses wurde extern von den Mächten anerkannt und versuchte intern die Politik der 13 Orte wirksamer zu koordinieren. Unter französischer Oberherrschaft, von 1798 bis 1813, war die Neutralität hingegen mangels aussenpolitischer Selbständigkeit «unächt» oder «un mot vide de sens» (Napoleon).

1647 wurde zudem die Bundespflicht der Orte auf einen präventiven Grenzschutz gegen Truppendurchzüge ausgedehnt, die Neutralität also «bewaffnet». Die Verteidigungsbereitschaft war stets mehr oder weniger beschränkt, aber nicht unwesentlich. Jorio sieht in ihr speziell auch einen Faktor der Verschonung im Zweiten Weltkrieg, während er die Rolle der Wirtschaftsbeziehungen in der gefährlichsten Phase geringer gewichtet als die Bergier-Kommission.

Ebenfalls schon im Dreissigjährigen Krieg war die Frage der indirekten Unterstützung von Kriegsparteien aufgetaucht. Die Tagsatzung beschränkte damals die Waffenausfuhr und Lebensmittellieferungen an Armeen und verfügte auch in der Folge regelmässig Restriktionen. Schlecht passten dazu die Söldnerdienste, die lange vor allem Frankreich zugutekamen und sich dann diversifizierten. Aus dem Zweiten Weltkrieg sind die Vorschüsse des Bundes für Exporte nach Nazideutschland (Clearing-Milliarde) ein bekanntes Beispiel einer unzulässigen finanziellen Unterstützung von Kriegsanstrengungen.

Ein altes Phänomen ist schliesslich die Mythisierung des Begriffs. 1674 wurde die Neutralität erstmals offiziell deklariert (insofern prinzipienlos, als ein alter Vertrag die Eidgenossenschaft verpflichtet hätte, die neutralisierte Freigrafschaft Burgund gegen Frankreich zu schützen); 1688 galt sie für die Tagsatzung als «hergebracht», und bald hiess es, sie sei «zu allen Zeiten» nützlich gewesen. Die Erfahrung als «friedliche Insel» hat den «Glauben» an die Neutralität auch nach den Weltkriegen weiter gefestigt.

Brüchige Anerkennung

Zur Neutralität gehörte aber von Anfang an die Kritik an ihr. Im Innern forderten etwa die «Konfessionalisten» eine entsprechende militärische Parteinahme, von aussen ertönten der Vorwurf von «Faulheit und Verrätherei» oder die Mahnung, dass «nicht allein Gott die Laulichen, das ist die Neutralisten (. . .) ausspeyen thue». Solche Urteile wurzeln in der Idee des «gerechten Kriegs». Sie mögen zugleich parteilichen Interessen dienen. Doch die Neutralität ist im Konfliktfall wert, was es den relevanten Kriegsmächten wert ist, sie zu beachten. Die Eidgenossenschaft erreichte vorerst situative Anerkennungen durch einzelne Mächte. Der grosse Schritt auf europäischer Ebene folgte auf den Tiefpunkt, das Dasein als Vasall von Frankreich (Helvetik und Mediation). Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit erreichte die Schweiz im zweiten Frieden von Paris 1815 auch die Anerkennung ihrer «immerwährenden» (perpétuelle) Neutralität. Gegen den Willen ihres Vertreters war im Titel der Erklärung auch von «Garantie» die Rede, woraus sich eine Art Aufsichtsrecht ableiten liess.

In der Folgezeit forderten die Mächte, nicht ohne vorherige Drohung von Interventionen, fortwährend ein vorbildliches Verhalten - besonders von der Presse - sowie Massnahmen gegen politisch engagierte Flüchtlinge. Es ging dabei weniger um die eigentliche Neutralität als um die Abwehr demokratischer Kräfte, die den Monarchien gefährlich werden konnten. Dieser ausländische Druck könnte ein Grund gewesen sein, weshalb die Schweiz zuerst skeptisch gegen eine Kodifikation von Rechten und Pflichten der Neutralen war und erst anlässlich der zweiten Haager Konferenz 1907 umschwenkte.

Die Lage als Schlüsselfaktor

Im Zweiten Weltkrieg verlangten beide Kriegsmächte, wie Jorio schreibt, einerseits von den Neutralen die strikte Einhaltung der Neutralität und setzten sich anderseits nach Bedarf über diese hinweg. Besonders hält er fest, dass die bis 1941 selber noch neutralen USA die Schweiz durch den Einbezug in ihre Wirtschaftsblockade noch enger in die Abhängigkeit von Deutschland getrieben hätten. Die Alliierten schätzten allerdings die Guten Dienste in der Diplomatie und die humanitären Leistungen, die schon im Ersten Weltkrieg beträchtlich gewesen waren. Bei ihrem Vorstoss nach Osten 1944/45 blieben ihre Truppen, aus welchen Gründen auch immer, auf der Nordseite des Rheins.

Hatte die Schweiz die Verschonung vom eigentlichen Krieg der Neutralität zu verdanken, die sie von allen vergleichbaren Staaten am striktesten praktizierte? Als entscheidend bezeichnet der Historiker, nicht nur mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg, die Verbindung der völkerrechtlich-politischen und der militärischen Faktoren mit der strategischen Lage des Landes. Während Jahrhunderten grenzte es an meist einander entgegengesetzte Mächte. So hatten von 1914 bis 1918 die Kriegführenden beidseits kein Interesse an einer Verlängerung der Front. 1940 lag die Schweiz abseits von Hitlers Stossrichtung auf den Hauptgegner Grossbritannien, und während der Einkreisung durch die Achsenmächte profitierte sie vom italienischen Interesse an einem Puffer gegen die rivalisierende Macht Deutschland, die hier einen Streit vermied.

Alternativen seit 1945?

Am Kriegsende stand die Schweiz unter der doppelten Kritik seitens der Sieger, sich im Kampf der freien Staaten gegen das Nazireich unmoralisch passiv und doch nicht konsequent neutral verhalten zu haben. Sie reagierte zum einen mit Bemühungen im Sinn internationaler Solidarität, zum andern indem sie ihre Neutralität noch mehr kultivierte, so dass sie sich nicht zuletzt jahrzehntelang den Zugang zur UNO verbaute. Die Schweiz habe «übertrieben», schreibt Jorio in Anlehnung an Alois Riklin über die Zeit des Kalten Kriegs, die er kritisch kommentierend darstellt. Die Neutralität habe ihre geostrategische Voraussetzung verloren, auch wenn ab 1955 die Fiktion eines Frontstaats (im «Riegel» mit Österreich) gepflegt worden sei. Die Schweiz hatte sich sogar zu Friedenszeiten in die amerikanische Embargopolitik gegen den Ostblock (CoCom-System) einzufügen. Immer wieder gebremste Öffnungsschritte bereiteten das Land nicht auf die Wende von 1989/90 vor, und so folgte die Zeit der Verunsicherung, die der Autor bis Anfang 2023 verfolgt.

Von der Anhänglichkeit an die Neutralität zeugen neben der konservativen Opposition gegen Lockerungen auch Tendenzen für eine stärker «engagierte» (Friedens-)Politik, speziell für Restriktionen im Rüstungsexport über völkerrechtliche Pflichten hinaus. In der Logik von Jorios sicherheitspolitischer Analyse läge vielmehr ein Beitritt zur NATO, denn die Schweiz sei von friedlichen Nachbarn umgeben und riskiere, bei den tatsächlichen Bedrohungen allein gelassen zu werden. Der Autor nennt den Anschluss an die Allianz «eine ehrliche Lösung – aber eine unrealistische» und kapituliert damit vor der Diskussion. So schlägt er nur vor, die Praxis der Neutralität zu verändern, sich mehr an der UNO-Charta zu orientieren, dabei aber die Abhängigkeit von der «Fehlkonstruktion» des Sicherheitsrats zu beenden, wenn es um die Feststellung eines Angriffs und die Unterstützung des Opfers gehe.

Bei allem Respekt vor Marco Jorios reichhaltigem Opus sei angefügt, dass sich die Diskussion um die Rolle der Schweiz in der Welt nicht auf die Kategorie «Neutralität» fixieren, sondern die umfassend verstandene auswärtige Politik mit ihren Motiven und Möglichkeiten in den Blick nehmen sollte. Und je mehr die Schweiz allenfalls als Teil Europas agieren will, desto geringer wird wohl die Substanz der nationalen Neutralität.

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Marco Jorio: Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2023. 516 S., Fr. 49.-.

Veranstaltungen am 25.4., 18.15 h im Politforum, Bern, und am 2.5., 18.30 h im Landesmuseum, Zürich. www.hierundjetzt.ch/de/veranstaltungen/