Kolumne

Weniger Idealismus heisst nicht mehr Realismus

von Christoph Wehrli | Juli 2019
In der Aussenpolitischen Vision Schweiz 2028 wird eine energischere Vertretung wirtschaftlicher Interessen gefordert. Die Kräfteverhältnisse in der Welt, Divergenzen innerhalb des Landes und globale Probleme verlangen indessen eine breitere Sicht.

Es wird härter in der Welt. Die Arbeitsgruppe aus Spitzenvertretern des EDA und externen Mitgliedern nennt im Analyseteil ihres Berichtes die Tendenzen klar: Spannungen zwischen den Grossmächten, Fragmentierung der Handelsordnung, fragile Staaten in den grossen Armutsregionen, innenpolitische Widerstände gegen die Globalisierung. - Zeit also, Abschied zu nehmen von einer „netten“, auf Ideale und multilaterale Harmonie ausgerichteten Aussenpolitik? Die Schweiz sollte „ihre Interessen klarer definieren und prominent verfolgen“, heisst es in der Aussenpolitischen Vision. Die Autorinnen und Autoren halten zwar fest, Interessen und Werte (wie Demokratie, Rechtsstaat und Kompromisskultur) gehörten zusammen, schreiben aber im Konkreten: „Das Engagement für eine erfolgreiche Schweizer Exportwirtschaft sollte wieder stärker ins Zentrum der Schweizer Aussenpolitik rücken.“

Zielkonflikte überspielt
Die von anderer Seite gerne geäusserte Kritik, die Schweiz führe seit je vor allem eine Aussenwirtschaftspolitik, mag verzerrend und überholt sein. Faktum ist, dass die Schweiz über eine gutetablierte Handelsdiplomatie verfügt. Dabei macht sie allerdings die triviale Erfahrung, dass auch die Gegenseite (Export-)Interessen ins Spiel bringt. So soll die Schweiz – um ein aktuelles Beispiel anzuführen – im Rahmen neuer Freihandelsabkommen ihren Markt für den Import von Palmöl aus Südostasien und von Fleisch aus Südamerika weiter öffnen. Dies wiederum tangiert nicht nur Interessen der einheimischen Landwirtschaft, sondern auch Umweltfragen wie namentlich den Klimaschutz.

Soll nun – ein weiteres Element der Vision - die Aussenpolitik innenpolitisch besser verankert werden, so ist nicht nur die Mitwirkung von Parlament, Kantonsregierungen und politischen Organisationen zu klären, sondern vor allem auch ein inhaltlicher Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zu suchen. Angesichts fragwürdiger Seiten der Globalisierung kann bei Zielkonflikten die Exportsteigerung keinen automatischen Vorrang beanspruchen. Im Bericht wird ein Vertrauensproblem der Aussenpolitik anerkannt, doch vor allem die institutionelle Frage erörtert.

Die Spannungen bei den vermeintlich klaren nationalen Interessen überlagern sich mit dem Verhältnis zu übergeordneten Gemeingütern oder globalen Interessen. Zu den entsprechenden auch in der Bundesverfassung hochgehaltenen Werten gehören die Umweltbewahrung und die Bekämpfung von Armut und Not. Es geht also, so unoriginell es tönt, um echte Nachhaltigkeit als Verbindung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ziele. Darum muss gerungen werden, und hier besteht mehr Nachholbedarf als bei der blossen Exportpromotion.

Ein Selbstbild der Unschuld
Von welcher Stellung aus kann die Schweiz überhaupt eine interessenbetonte Aussenpolitik betreiben? Die Vision 2028 ist von einer Zuversicht geprägt, die allzu programmatisch wirkt. Die Schweiz erscheint als „politische und wirtschaftliche Mittelmacht“ und zugleich als lösungsorientierte, vermittelnde Akteurin, „die keine versteckte machtpolitische Agenda verfolgt“. Dass ihre Guten Dienste, mit denen sie in wachsender Konkurrenz steht, als Nebeneffekt „immer wieder Türen öffnen“ und insofern nicht ganz selbstlos sind, wird keineswegs verschwiegen. Und die Neutralität stelle „einen Trumpf für eine eigenständige Aussenpolitik“ dar, auch wenn ihre Schutzfunktion gegenwärtig nicht im Vordergrund stehe. - Gewiss hat die Schweiz spezifische Handlungsmöglichkeiten, doch das traditionelle Image des Unbeteiligten, das übrigens nie unangefochten war, reicht als Grundlage kaum. In handelspolitischen Auseinandersetzungen, dies räumt der Bericht ein, werde die Schweiz in Zukunft häufiger zur Partei werden.

Der Sonderfall Schweiz ist schon oft voreilig totgesagt worden. Dennoch kann man Tendenzen in Richtung Normalfall erkennen. Dazu gehört die Verengung des Spielraums für Bankgeschäfts- und Steuermodelle, die von zahlreichen anderen Staaten als unfair betrachtet werden. Der Bericht redet von „Begehrlichkeiten“, die der schweizerische Wohlstand wecke, und erinnert damit an alte Ideologien einer moralischen Überlegenheit. Am Schluss heisst es gar: Die Schweiz „schreibt ihre Erfolgsgeschichte selbst“ – wie wenn in der realen Geschichte des Landes Glück, Vorteile der Kleinstaatlichkeit, Abhängigkeiten und Anpassung nicht eine unübersehbare Rolle gespielt hätten. Eine Distanzierung von übertriebenem Idealismus, wie sie im Trend liegt, scheint keine Garantie für eine schonungslos realistische Sicht zu sein. Wird der Bericht deshalb zur Vision erklärt?