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Zentralasien (I): Wie die Ruhe vor dem Sturm?

von René Holenstein | August 2023
Zentralasien wurde lange Zeit als eine exotische und geheimnisvolle Region betrachtet, die Reisebüros mit dem Slogan «Faszination Seidenstrasse» beworben haben. Jedoch hat sich dies seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geändert, denn die Region ist wieder ins politische Rampenlicht gerückt.

Die wirtschaftliche Bedeutung der fünf Länder Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan liegt vor allem in ihren Rohstoffen. Historisch sind sie eng miteinander verflochten. Seit der Sowjetzeit haben autokratische Herrschaftstradition und Personalisierung der Macht den Übergang zur Demokratie in der Region behindert. Nach der Unabhängigkeit 1991 versuchten alle Länder, eine neue nationale Identität auf der Grundlage von Sprache, Herkunft und Territorium zu entwickeln. Dies hat zu Nationalismus, Grenzkonflikten und Verteilungskämpfen um natürliche Ressourcen, insbesondere Wasser, geführt.

Kirgistan präsentierte sich lange als «Insel der Demokratie» und als «Schweiz Zentralasiens». Die parlamentarische Demokratie, der vom Volk gewählte Präsident, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung sowie eine relative Meinungsäusserungsfreiheit rückten das Land in ein vorteilhaftes Licht. Aber die politischen Führer wurden mit der Zeit immer autokratischer. Zwei Revolutionen – eine 2005 und eine andere 2010 – wurden von der Forderung nach mehr Demokratie und einem Ende der Korruption angetrieben und endeten mit der Machtübernahme neuer Präsidenten. Doch auch sie gerieten schnell in Verruf. Vor drei Jahren kam nach einer weiteren «Revolution» Präsident Sadyr Japarov an die Macht. Darauf sprachen sich in einer Volksabstimmung die Kirgisinnen und Kirgisen für eine neue Verfassung aus, welche das parlamentarische System abschaffte und eine Präsidialrepublik einführte. Inzwischen hat der Druck auf die Zivilgesellschaft zugenommen. Ähnlich wie in Russland drohen neue Gesetze, die Meinungsfreiheit einzuschränken und westliche NGOs zu verbieten. Im April wurde Radio Azattyk (Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) verboten.

In Tadschikistan hat Staatspräsident Emomalij Rahmon zusammen mit seiner Familie und einer kleinen privilegierten Gruppe seit drei Jahrzehnten die absolute Macht über politische Institutionen und Wirtschaftsunternehmen. Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Medien behindern das wirtschaftliche Wachstum und die Entstehung einer lebendigen Zivilgesellschaft. Das Land kämpft mit weitverbreiteter Armut und hoher Arbeitslosigkeit. Viele Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, was ihre Lebensbedingungen weiter erschwert. Ein weiteres Problem ist die schwache Rechtsstaatlichkeit; Korruption ist in vielen Bereichen verbreitet und die Justiz ist nicht unabhängig.

Usbekistan, das bevölkerungsreichste Land in Zentralasien, durchläuft seit dem Tod von Langzeitherrscher Islom Karimov vor sieben Jahren einen politischen Wandel. Die Reformbemühungen konzentrieren sich hauptsächlich auf die Wirtschaft und haben zum Ziel, den Privatsektor zu stärken, die ausländischen Investitionen zu beleben und die Beziehungen zu den Nachbarländern zu verbessern. So einigte man sich mit Kirgistan und Tadschikistan in Fragen der Wassernutzung und Energie, insbesondere hinsichtlich der grenzüberschreitenden Flusssysteme des Syr-Darja und Amu-Darja. Jedoch stocken laufende Reformen oder sie wurden zurückgenommen. Menschenrechtsorganisationen bestätigen zwar, dass es bei der Abschaffung der Zwangsarbeit im Baumwollsektor beträchtliche Fortschritte gab. Aber die Rechte auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung bleiben eingeschränkt. In der Verwaltung hat sich die zentralasiatische Variante der Sowjetbürokratie in grossen Teilen bewahrt.

Lavieren in der Aussenpolitik

Die zentralasiatischen Länder versuchen, ihre aussenpolitischen Beziehungen zu diversifizieren, dabei sind Russland und China gleichermassen wichtig. Auf den russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine haben sie unterschiedlich, aber dennoch pragmatisch reagiert. Obwohl sie weiterhin enge Beziehungen zu Russland pflegen, haben sie sich bei den Uno-Abstimmungen über die Ukraine-Resolutionen neutral verhalten. Dies lässt auf eine gewisse Abgrenzung gegenüber Moskau schliessen, insbesondere seitens Kasachstans mit seiner grossen russischen Minderheit im Norden. Tadschikistan und Kirgistan befinden sich in einer nicht einfachen Situation, da sie sich die Konfrontation mit Russland nicht leisten können: Die Arbeitsmigration nach Russland ist für sie eine wichtige Einkommensquelle.

Der Ausgang des Ukraine-Krieges und das politische Schicksal von Präsident Putin dürften auch Auswirkungen auf die zentralasiatischen Staaten haben. Aus ihrer Sicht wäre eine militärische Niederlage Russlands nicht wünschenswert, da sie die Region destabilisieren könnte. Gleichzeitig befürchten die westlichen Regierungen, dass die Länder dazu missbraucht werden könnten, um Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Dies war einer der Gründe für den Besuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Kasachstan und Kirgistan im Juni. Dabei ging es weniger um Fragen des Klimaschutzes und der Gletscherschmelze als um die Sorge, dass der Westen in Zentralasien an Einfluss verlieren könnte. Deutschland hat in den letzten Jahren seine finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Usbekistan deutlich ausgebaut.

Allerdings ist diese Hilfe im Vergleich zu den chinesischen Investitionen bescheiden. Chinesische und türkische Investoren haben den Ausbau wichtiger Infrastrukturen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in den vergangenen Jahren vorangetrieben. Der Handel zwischen China und den Ländern erreichte im letzten Jahr ein Rekordvolumen von 70 Mrd. US$. China wird insgesamt 3,7 Mrd. US$ zur Modernisierung der Länder bereitstellen. Kirgistan, Usbekistan und Turkmenistan haben bereits stärkere Handelsbeziehungen mit China als mit Russland.

Zivilgesellschaft schützen

Die Schweiz geniesst in Zentralasien einen guten Ruf. Seit 1992 gehört sie zu einer Stimmrechtsgruppe in den Bretton-Woods-Institutionen, die auch die zentralasiatischen Länder umfasst («Helvetistan»). Auch die langjährige Entwicklungszusammenarbeit hat zu ihrem positiven Image beigetragen. Gerade deshalb erwarten viele Menschen in der Region, dass die Schweiz angesichts der autokratischen Tendenzen mehr für Frieden und Entwicklung tut. Die Schweiz muss ihre Stimme für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit erheben, und die bedrohte Zivilgesellschaft muss geschützt werden.

 

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Dies ist der erste von zwei Artikeln über die fünf «-stans» in Zentralasien. Der vorliegende befasst sich mit der strategischen Situation, namentlich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Der zweite wird das Verhältnis der Schweiz zur Region beleuchten

René Holenstein ist Historiker und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) und des Zentralvorstands von Helvetas. Von 2013 bis 2017 war er als Botschafter der Schweiz in Kirgistan tätig. Er ist vor kurzem erneut nach Zentralasien gereist.