Brexit – Scheidung ohne Scheidungsrecht

von Christoph Wehrli | November 2018
Kurz vor Ablauf der Zeit für eine Einigung Grossbritanniens mit der EU hat der Tory-Parlamentarier Jonathan Djanogly an der Universität Zürich vor einem ungeregelten Brexit gewarnt. An sich EU-Befürworter, setzt er aber nicht auf eine zweite Volksabstimmung.

«Brexit – geordnet oder chaotisch», das Thema der Aussenpolitischen AULA, welche die SGA gemeinsam mit dem Europa-Institut Zürich veranstaltet hat, war so aktuell, dass die Frage nach offiziellem Zeitplan bald darauf beantwortet werden sollte. Die Auseinandersetzungen um die Modalitäten des Austritts von Grossbritannien aus der EU werfen jedoch auch ein Licht auf die Vorgeschichte des Volksentscheids und auf die Probleme einer Anschlussregelung.

Zwang zu einem Deal
Der konservative britische Unterhaus-Abgeordnete Jonathan Djanogly, Hauptreferent des Abends, war 2016 für ein Verbleiben in der EU eingetreten, respektiert aber das Resultat des Referendums und hofft auf eine konstruktive Umsetzung. In den Verhandlungen um den Austritt (eine Art Scheidung ohne rechtlich vorgespurte Lösungen) hätten London und Brüssel über rund 95 Prozent der Materie eine Einigung erreicht, führte er aus. Dies gelte insbesondere für die Berechnung der britischen Zahlungen – noch ohne konkrete Summe – und für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die im jeweils anderen Gebiet leben. Unbestritten ist auch, dass zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland nicht wieder eine harte Grenze errichtet werden soll – dies wäre allerdings die zwingende Folge eines «No Deal». Da das Königreich eine rechtliche Grenze innerhalb seines Gebiets (in der Irischen See) nicht akzeptiert, sucht man einen Ausweg im (vorläufigen) Verbleib des ganzen Territoriums in der europäischen Zollunion. Impliziert wäre wohl, dass auch die Regeln des Binnenmarkts noch gälten.

Ein Scheitern der Austrittsverhandlungen hätte Konsequenzen, die der Gastredner vornehm als «very significant» und «pretty severe» bezeichnete. Zumal man in London nicht darauf vorbereitet war, sollen sich nun Tausende von Beamten mit den rechtlichen und praktischen Fragen befassen, die sich aus einem solchen Ende der über 40jährigen Verflechtung mit der EU ergäben. Umso mehr rechnete Djanogly damit, dass eine Einigung bis Mitte November (die Frist ergibt sich aus den darauf folgenden Verfahrensschritten) zustande kommen werde.

Konstante Ambivalenz
In der von Markus Mugglin geleiteten Diskussion kritisierte der in Zürich lebende britische Journalist Haig Simonian, dass beim Brexit-Referendum das Volk teilweise irregeführt worden sei und sogar vielen Politikern die Bedeutung des Entscheids nicht klar bewusst gewesen sei. Sollte demnach nochmals abgestimmt werden, nachdem sich die Schwierigkeiten eines Neuanfangs als EU-Nichtmitglied deutlicher gezeigt haben? Djanogly hält eine Wiederholung weder für wahrscheinlich noch für vielversprechend. Über die Informiertheit der Stimm- und Wahlberechtigten lasse sich immer diskutieren. Ein Umschwung sei aber hauptsächlich im Zug eines Generationenwechsels zu erwarten, eine Rückkehr in die EU also in etwa 20 Jahren. Gerald Hosp, NZZ-Redaktor und Autor des Buchs «Brexit zwischen Wahn und Sinn» (siehe Lesetipp), sieht im Volksentscheid insofern einen (zeitgeschichtlichen) «Sinn», als die Zugehörigkeit zur EU für Grossbritannien nie eine Herzensangelegenheit gewesen sei, sondern eher eine Sache der ökonomischen Vernunft. Diese Ambivalenz mag auch einen Mangel an Verständnis für das Funktionieren der EU und für die Grenzen ihrer Verhandlungsbereitschaft erklären (gerne liess man sich in London nun über die Erfahrungen der Schweiz orientieren).

Als irrational («Wahn») erscheint nichtsdestoweniger die Verabschiedung aus dem Binnenmarkt. Diese fordern jetzt auch manche «Brexiteers», die einst noch auf den EWR als Möglichkeit verwiesen hatten. Nach Djanoglys Einschätzung möchte die grosse Mehrheit der Briten weiterhin spezielle Wirtschaftsbeziehungen mit der EU, und das Verhandlungsziel der Regierung – Teilnahme am Binnenmarkt für Güter, nicht aber für Dienstleistungen – werde von einer Parlamentsmehrheit unterstützt (während Brüssel bisher nicht darauf einging). Er selber sähe zudem in der Fortführung der Zollunion mehr Vorteile als in der Freiheit zum Abschluss eigener Handelsabkommen mit Drittstaaten. Bei Verhandlungen wäre mit allerlei Gegenforderungen, im Fall von Indien beispielsweise im Bereich der Reise- oder Aufenthaltsfreiheiten, und jedenfalls mit einigem Zeitbedarf zu rechnen.

Und die Schweiz?
Der Wunsch nach wirtschaftlicher Verbindung bei politischer Unabhängigkeit kennzeichnet auch die Europapolitik der Schweiz. Vergleichen lässt sich zudem die Notwendigkeit, sich vorerst selber über Ziele und allfällige Konzessionen zusammenzuraufen. Für das Stocken der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen sei nicht einfach die EU verantwortlich zu machen, sagte Nationalrätin Christa Markwalder, Präsidentin der SGA. Ausserdem bewegten sich Grossbritannien und die Schweiz in gegenläufige Richtungen; dem eng mit seiner Umgebung verflochtenen Binnenland sei ein insularer Rückzug nicht möglich – oder nur geistig, was auch nicht von Gutem wäre. Günstige Voraussetzungen dürften indes laut Djanogly für Abkommen zwischen den beiden Staaten bestehen.