Lesetipp
Das IKRK oder das Virus des Humanitären
von
Christoph Wehrli
| Juli 2016
Eine Auswahl von Vorträgen des früheren IKRK-Präsidenten Cornelio Sommaruga gibt auf persönliche Weise Einblick in Tätigkeit, Geschichte und heute noch aktuelle Probleme der zentralen Rotkreuz-Institution.
Der in Rom aufgewachsene Tessiner Cornelio Sommaruga (geboren 1932) war Handelsdiplomat, zuletzt Staatssekretär für Aussenwirtschaft, bevor er 1987 – nur beschränkt zur Freude seines Chefs Kurt Furgler, der selber ein Auge auf dieses Amt geworfen hatte – als Nachfolger von Alexandre Hay zum Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gewählt wurde. Die von Joseph Jung herausgegebenen Reden und Vorträge illustrieren nicht zuletzt, dass eine weltoffene Persönlichkeit, ein Jurist, liberaler praktizierender Katholik und guter Kommunikator hier ein geradezu ideales Tätigkeitsfeld gefunden hatte. Bei seinem Abschied zitierte er den Vergleich des IKRK mit einem Virus, von dem man sich nicht mehr trenne.
Sommarugas intensive Kontaktpflege und die Öffentlichkeitsarbeit mit über 800 Reden entsprachen dem Umstand, dass die «Macht» des IKRK stark vom Vertrauen der politisch oder militärisch Verantwortlichen und von der allgemeinen Bekanntheit der humanitären Werte, Regeln und Leistungen abhängig ist. Zudem berief er sich auf den Wunsch des damaligen Komitees, dass die Institution «wieder auf der weltpolitischen Landkarte erschien». Der Präsident hielt am Prinzip der Diskretion fest, scheute aber klare Worte nicht. So bemerkte er 1995 in Sarajevo, auf ein Händeschütteln mit dem Kriegsverbrecher Radovan Karadzic angesprochen: «Wissen Sie, seit ich beim IKRK bin, habe ich gelernt, meine Hände mehrmals am Tag zu waschen!»
Starker Ausbau des IKRK
In Sommarugas Amtszeit von 1987 bis 1999 wurden die Aktivitäten des IKRK für Konfliktopfer stark erweitert. Die Zahl der Mitarbeitenden stieg von 3600 auf 9500 Personen, das Budget von 260 Millionen auf 1 Milliarde Franken. Gerade auch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation kam es zu zahlreichen – meist primär internen – bewaffneten Konflikten, zu diffuser Gewalt und zu lange anhaltenden Notlagen, die das IKRK an seine Grenzen zu bringen drohten. Obschon das humanitäre Völkerrecht 1977 ergänzt worden war und vor allem um dessen Respektierung gerungen werden musste, blieb es wichtig, auf neuartige Formen von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung mit neuen Normen zu reagieren. Einen Erfolg bedeutete 1997 die Konvention über ein Verbot der Antipersonenminen. Das IKRK hatte sich stark engagiert, da ihm die furchtbaren Folgen der zahllosen Minenexplosionen von seiner chirurgischen und orthopädischen Arbeit her drastisch bekannt waren.
Die in dem Band publizierten Texte – jeweils umrahmt durch Einführungen und weitere Hinweise von Bernhard Altermatt – vermitteln in einer Art Querschnitt Informationen über Rechtsgrundlagen, Geschichte und Tätigkeit des IKRK: Schutz der Verletzten, der Gefangenen und der Zivilbevölkerung, in zunehmendem Mass materielle und medizinische Hilfe, Kontaktvermittlung zu Familienangehörigen, Aufklärung über das humanitäre Recht und Diplomatie. Zur Sprache kommen zudem die Kooperation und andeutungsweise die Spannungen mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und deren Föderation, «die möglichen Irrtümer und Unterlassungen» während des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Problematik militärischer Interventionen mit humanitärer Begründung.
Was das Herkunftsland des Roten Kreuzes betrifft, stellte Sommaruga klar, dass das IKRK – ein privater Verein aus schweizerischen Weltbürgern mit international-rechtlichem Mandat – «nicht den humanitären Arm der schweizerischen Aussenpolitik bildete». Im Sinn der Unabhängigkeit der humanitären Institution normalisierte er 1993 gewissermassen die Beziehungen durch Abschluss eines Sitzabkommens. Mit dem Hinweis auf die Unterschiede zwischen den beiden Neutralitätsbegriffen gab er der Schweiz auch Raum, ihren Status neu zu interpretieren. Dies alles hebt nicht auf, dass die Eidgenossenschaft und das IKRK in besonderem Mass voneinander profitieren und voneinander abhängig sind und «Genf» in Bern entsprechende Aufmerksamkeit verdient.
Trotz thematischer Gliederung, einem aktuellen Interview und einem Verzeichnis aller 1169 von 1971 bis 2015 gehaltenen Reden Cornelio Sommarugas hat der Band auch unhandliche Seiten. Die jeweils vollständig wiedergegebenen Texte sind (ohne Résumés) in vier Sprachen verfasst und oft eher allgemein gehalten; sie enthalten weniger konkrete Begebenheiten als ein früher erschienener Gesprächsband, vermitteln aber auch kein wirklich systematisches (und naturgemäss kein ganz aktuelles) Bild der Institution. Der Leser oder die Leserin bringt wohl nicht die gleiche Geduld wie der Redner auf, sich zum Beispiel «Solferino» wieder und wieder zu vergegenwärtigen. Spürbar wird aber die Hingabe für ein so wichtiges wie schwieriges Anliegen der Menschlichkeit.
Joseph Jung (Hrsg.): Im weltweiten Einsatz für Humanität. Cornelio Sommaruga, Präsident des IKRK 1987-1999, Reden und Vorträge. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2016. 388 S., Fr.48.-.
Der in Rom aufgewachsene Tessiner Cornelio Sommaruga (geboren 1932) war Handelsdiplomat, zuletzt Staatssekretär für Aussenwirtschaft, bevor er 1987 – nur beschränkt zur Freude seines Chefs Kurt Furgler, der selber ein Auge auf dieses Amt geworfen hatte – als Nachfolger von Alexandre Hay zum Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gewählt wurde. Die von Joseph Jung herausgegebenen Reden und Vorträge illustrieren nicht zuletzt, dass eine weltoffene Persönlichkeit, ein Jurist, liberaler praktizierender Katholik und guter Kommunikator hier ein geradezu ideales Tätigkeitsfeld gefunden hatte. Bei seinem Abschied zitierte er den Vergleich des IKRK mit einem Virus, von dem man sich nicht mehr trenne.
Sommarugas intensive Kontaktpflege und die Öffentlichkeitsarbeit mit über 800 Reden entsprachen dem Umstand, dass die «Macht» des IKRK stark vom Vertrauen der politisch oder militärisch Verantwortlichen und von der allgemeinen Bekanntheit der humanitären Werte, Regeln und Leistungen abhängig ist. Zudem berief er sich auf den Wunsch des damaligen Komitees, dass die Institution «wieder auf der weltpolitischen Landkarte erschien». Der Präsident hielt am Prinzip der Diskretion fest, scheute aber klare Worte nicht. So bemerkte er 1995 in Sarajevo, auf ein Händeschütteln mit dem Kriegsverbrecher Radovan Karadzic angesprochen: «Wissen Sie, seit ich beim IKRK bin, habe ich gelernt, meine Hände mehrmals am Tag zu waschen!»
Starker Ausbau des IKRK
In Sommarugas Amtszeit von 1987 bis 1999 wurden die Aktivitäten des IKRK für Konfliktopfer stark erweitert. Die Zahl der Mitarbeitenden stieg von 3600 auf 9500 Personen, das Budget von 260 Millionen auf 1 Milliarde Franken. Gerade auch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation kam es zu zahlreichen – meist primär internen – bewaffneten Konflikten, zu diffuser Gewalt und zu lange anhaltenden Notlagen, die das IKRK an seine Grenzen zu bringen drohten. Obschon das humanitäre Völkerrecht 1977 ergänzt worden war und vor allem um dessen Respektierung gerungen werden musste, blieb es wichtig, auf neuartige Formen von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung mit neuen Normen zu reagieren. Einen Erfolg bedeutete 1997 die Konvention über ein Verbot der Antipersonenminen. Das IKRK hatte sich stark engagiert, da ihm die furchtbaren Folgen der zahllosen Minenexplosionen von seiner chirurgischen und orthopädischen Arbeit her drastisch bekannt waren.
Die in dem Band publizierten Texte – jeweils umrahmt durch Einführungen und weitere Hinweise von Bernhard Altermatt – vermitteln in einer Art Querschnitt Informationen über Rechtsgrundlagen, Geschichte und Tätigkeit des IKRK: Schutz der Verletzten, der Gefangenen und der Zivilbevölkerung, in zunehmendem Mass materielle und medizinische Hilfe, Kontaktvermittlung zu Familienangehörigen, Aufklärung über das humanitäre Recht und Diplomatie. Zur Sprache kommen zudem die Kooperation und andeutungsweise die Spannungen mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und deren Föderation, «die möglichen Irrtümer und Unterlassungen» während des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Problematik militärischer Interventionen mit humanitärer Begründung.
Was das Herkunftsland des Roten Kreuzes betrifft, stellte Sommaruga klar, dass das IKRK – ein privater Verein aus schweizerischen Weltbürgern mit international-rechtlichem Mandat – «nicht den humanitären Arm der schweizerischen Aussenpolitik bildete». Im Sinn der Unabhängigkeit der humanitären Institution normalisierte er 1993 gewissermassen die Beziehungen durch Abschluss eines Sitzabkommens. Mit dem Hinweis auf die Unterschiede zwischen den beiden Neutralitätsbegriffen gab er der Schweiz auch Raum, ihren Status neu zu interpretieren. Dies alles hebt nicht auf, dass die Eidgenossenschaft und das IKRK in besonderem Mass voneinander profitieren und voneinander abhängig sind und «Genf» in Bern entsprechende Aufmerksamkeit verdient.
Trotz thematischer Gliederung, einem aktuellen Interview und einem Verzeichnis aller 1169 von 1971 bis 2015 gehaltenen Reden Cornelio Sommarugas hat der Band auch unhandliche Seiten. Die jeweils vollständig wiedergegebenen Texte sind (ohne Résumés) in vier Sprachen verfasst und oft eher allgemein gehalten; sie enthalten weniger konkrete Begebenheiten als ein früher erschienener Gesprächsband, vermitteln aber auch kein wirklich systematisches (und naturgemäss kein ganz aktuelles) Bild der Institution. Der Leser oder die Leserin bringt wohl nicht die gleiche Geduld wie der Redner auf, sich zum Beispiel «Solferino» wieder und wieder zu vergegenwärtigen. Spürbar wird aber die Hingabe für ein so wichtiges wie schwieriges Anliegen der Menschlichkeit.
Joseph Jung (Hrsg.): Im weltweiten Einsatz für Humanität. Cornelio Sommaruga, Präsident des IKRK 1987-1999, Reden und Vorträge. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2016. 388 S., Fr.48.-.
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