Lesetipp

Städte im globalen Süden: Entwicklung von unten?

von Christoph Wehrli | Dezember 2022
In ihrem entwicklungspolitischen Jahrbuch beleuchtet Caritas Schweiz die Verstädterung des Welt-Südens, die mit einer partiellen Entwicklung wie auch mit einer Konzentration von Armut verbunden ist. Verbesserungen bedingen, dass die informellen Strukturen und die Mitspracherechte der Bevölkerung ernstgenommen werden.

Das Bild der armen und ärmsten Länder der Welt ist immer noch oft ländlich geprägt, und nicht zuletzt die engagierten NGO heben gerne die Entwicklungszusammenarbeit im dörflichen oder kleinstädtischen Milieu hervor. Eine solche Schwerpunktsetzung ist allein schon durch die Bedeutung der Ernährungsfrage gut begründet, entspricht aber auch einer abschreckenden Wahrnehmung und Darstellung der Urbanisierung, die mit einem unkontrollierbaren Wachstum von Slums assoziiert wird. Mittlerweile leben allerdings sogar in Afrika 43 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten, in Asien mehr als die Hälfte und in Lateinamerika rund vier Fünftel. Dieser Realität stellt sich Caritas Schweiz, indem sie in ihrem Almanach Entwicklungspolitik diesmal zwei Dutzend Fachleute über die Verstädterung des globalen Südens, ihre Potenziale und Probleme schreiben lässt.

Ambivalenter Megatrend



Das zu erfassende Phänomen ist offenkundig vielfältig und ambivalent. Es gehört dazu die Entstehung von Megastädten mit mehr als fünf Millionen Einwohnern (2018 waren es weltweit 67), aber auch das insgesamt raschere Wachstum kleinerer und mittelgrosser Städte, die besonders auch wegen ihrer Verbindungen mit dem ländlichen Raum wichtig sind. Urbane Zentren sind Orte von Pluralität und Innovation, aber auch solche von Spannungen und Problemen. Wasser- und Stromversorgung, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie stabile Beschäftigungsmöglichkeiten sind sehr ungleich verteilt. Grosse Teile der Bevölkerung leben in Armut, abseits der modernen Geschäftsviertel und der «gated communities» der Oberschicht. «Informalität», charakteristisch für die Existenz der Mehrheit, bedeutet unsichere Verfügung über Boden und Wohnraum sowie eine wenig produktive Erwerbstätigkeit ohne rechtlichen und sozialen Schutz. Zudem bedeutet sie, etwa mangels geordneter Entsorgung, Schäden an der Umwelt und meist auch das Fehlen von Steuereinnahmen für den Staat.

Zwar weisen mehrere Autorinnen und Autoren auch auf erstaunliche Leistungen der Slum-Gesellschaften hin, auf die Bildung von Selbsthilfenetzen und auf pragmatische Versorgungslösungen wie improvisierte Leitungsanschlüsse, private Wasserverkäufer oder lokale Abfallsysteme. Ferner ist die Arbeit in der Stadt oft Teil einer diversifizierten familiären Strategie, zu der Geldzahlungen an die Angehörigen im Dorf ebenso gehören können wie die Rückkehr saisonaler Migranten an ihre Herkunftsorte zur Erntezeit.  Aber ein unternehmerischer Mittelstand entsteht namentlich in den Städten Afrikas kaum, der formelle, stärker in die Globalisierung einbezogene Sektor zieht mit seinem Wachstum die übrige Wirtschaft zu wenig mit. Die informelle Ökonomie ist generell keine blosse Übergangserscheinung (Jean-Claude Bolay, ehemals ETH Lausanne), zusammen mit der ländlichen Wirtschaft bildet sie nach Robert Kappel (Hamburg und Leipzig) die afrikanische «Zone der Stagnation».

Dezentrale Lösungsansätze



Wie liessen sich die Verhältnisse entscheidend verbessern? Längst lautet international die Parole, dass Slums nicht zu beseitigen, sondern aufzuwerten seien. In einer Stadt wie Lagos auf zentrale staatliche Infrastrukturen zu setzen, wäre illusorisch, schreibt etwa Fabienne Hoelzel (Stuttgart). Vielmehr gelte es, die Netze der informellen und traditionellen Akteure anzuerkennen, zu unterstützen und zu koordinieren. Auch in anderen Beiträgen wird für dezentrale Ansätze plädiert, die funktionierende Strukturen berücksichtigen und den Bewohnern Mitsprache erlauben. Auch eine «Entwicklung von unten» braucht allerdings einen politisch-rechtlichen Rahmen und Ressourcen von «oben» (oder von aussen).

Etliche Beispiele verdeutlichen, was angemessen und möglich ist. Werden etwa Gemeinschaftstoiletten gebaut, so ist auch an die Beleuchtung der Wege zu denken, wobei Flutlicht natürlich ungeeignet ist. In Nairobi betreibt das Unternehmen Sanergy im Franchising-System ein grosses Netz von Sanitäreinheiten, kümmert sich um die Entsorgung und produziert Kompost. Zu den bekannten Wasserversorgungs- und Berufsbildungsprojekten kommt bei Helvetas ein Engagement im Governance-Bereich. So unterstützt die Entwicklungsorganisation in Bolivien die Umsetzung der nationalen Urbanisierungsstrategie, namentlich ein regionales Observatorium, das die realen Veränderungen misst, und eine «Innovationswerkstatt» als Diskussionsforum für Interessengruppen. Solche Ausführungen sind allerdings eher knapp im Verhältnis zu den übrigen Teilen des Almanachs.

Wer konkretere Positionsbezüge zur schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit und -politik erwarten sollte, wird enttäuscht. Fragen – das wird deutlich – gäbe es durchaus. Sind die Prioritäten des Bundes und der Hilfswerke weiterhin richtig? Tragen sie den Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land Rechnung? Wie greifen Selbsthilfe, Entwicklungszusammenarbeit, angewandte Forschung und Behördentätigkeit im Einzelnen ineinander? Wie können welche Akteure eine Wirkung über punktuelle Projekte hinaus erreichen – ohne gleich im Direktgang auf die «inklusive, sichere, widerstandsfähige und nachhaltige» Stadt (Agenda 2030) zuzusteuern? Wohl im Bemühen um eine grundlegende Sicht und eine gewisse Internationalität tendieren Herausgeber und Beitragende dazu, allgemein und akademisch zu bleiben. Bedauerlich, denn eine Alternative zu diesem Jahrbuch ist uns nicht bekannt.

Urbanisierung im Globalen Süden. Almanach Entwicklungspolitik 2023. Das Caritas-Jahrbuch zur humanitären Schweiz. Caritas-Verlag, Luzern 2022, 267 S., Fr. 39.-.