Kolumne

Die Einheit des Westens vs. der Rest der Welt?

von Johann Aeschlimann | Februar 2023
Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine fordert die UNO-Generalversammlung Respekt vor der UNO-Charta (keine Angriffskriege, keine Annexionen) und verlangt erneut den «sofortigen, vollständigen und bedingungslosen» Rückzug der russischen Truppen. Das Stimmenverhältnis (141-7) ist nahezu gleich wie vor einem Jahr. Die von Russland behauptete Erosion der Mehrheit bleibt aus. Allerdings: Mit der Isolation Russlands ist es nicht so weit her, und die gerne zelebrierte «Einheit des Westens» hat beschränkte Strahlkraft.

Weil der Sicherheitsrat blockiert ist (das russische Veto), wird die Ukrainefrage in der UNO-Generalversammlung abgehandelt. Sie fasst zwar keine verbindlichen Beschlüsse, aber ihre Debatten und Resolutionen wirken als Thermometer der globalen Betriebstemperatur. Am 23. Februar hat sie in einer Resolution bekräftigt, was vorher mehrfach beschlossen wurde: Die UNO-Charta darf nicht verletzt werden. Die «Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen» (will heissen: inklusive Krim) muss gelten. Russland muss alle militärischen Kräfte «sofort, vollständig und bedingungslos» zurückziehen. Die Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine müssen «unverzüglich» aufhören. Das humanitäre Völkerrecht muss gelten.

141 Staaten stimmten für diese Resolution und 7 (Russland, Belarus, Syrien, Eritrea, Mali, Nicaragua, Venezuela) dagegen. 32 enthielten sich der Stimme. Mit geringfügiger Differenz (7 statt 5 Nein) entspricht das dem Ergebnis vor Jahresfrist. Die notwendige Zweidrittelsmehrheit wurde erneut übertroffen. Aber der Anspruch des «Westens», Russland in die Ecke zu stellen und den Ukrainekrieg zum Prüfstein für die Treue zur internationalen Rechtsordnung zu machen, bleibt nicht voll erfüllt. Wohl schlossen sich der grösste Teil Lateinamerikas und grosse Staaten ausserhalb von Europa und Nordamerika (Saudiarabien, Brasilien, Nigeria) der Mehrheit an. Andere, so China, Indien oder Südafrika, enthielten sich der Stimme. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent fand die Resolution nur schwachen Anklang. Lediglich 27 der 55 afrikanischen Staaten stimmten zu. Einige machten einen Vorbehalt gegenüber der Forderung nach accountability (Verantwortlichkeiten für Kriegsverbrechen).

.Die Debatte wurde weitgehend von europäischen Staaten beherrscht: Der Westen redete mit sich selbst. Sie betonten das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung und versicherten dem Angegriffenen Unterstützung «so lange als nötig». Der dänische Vertreter erklärte dazu: «Wenn Russland aufhört zu kämpfen, gibt es keinen Krieg mehr – wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, gibt es keine Ukraine mehr». Mit der Ukraine seien die UNO-Grundprinzipien angegriffen, was die ganze Welt angehe. Frankreich, Deutschland und Tschechien erklärten, in dieser Lage könne es keine Neutralität geben, weil der Neutrale «sich zum Komplizen macht»(Frankreich). Jeder Staat müsse entscheiden, ob er «isoliert mit dem Unterdrücker dastehen» oder «sich  Seite des Friedens zugesellen» wolle.

Russland stellte den Krieg als seinen eigenen Verteidigungskampf gegen den «kollektiven Westen» dar. Der russische Vertreter behauptete, die Staatengemeinschaft verstehe dies «heute besser als vor einem Jahr», und «der Westen» habe diesmal grössere Mühe, «für einen Kreuzzug gegen Moskau zu mobilisieren». Das Abstimmungsergebnis widerlegt die Annahme. Aber in der Debatte zeigte sich viel Unbehagen über einen Mangel an Gesprächsbereitschaft und «Dialog» - auch unter Befürwortern der Resolution. Während die EU für «Frieden, aber nicht jeden Frieden»  plädierte, verlangt die Türkei «eine klare diplomatische Vision für einen realistischen, machbaren Frieden». Ungarn, immerhin NATO-Mitglied, forderte Gespräche im UNO-Rahmen: «Weder Waffenlieferungen noch Sanktionen retten Leben».

China wiederholte seine Ankündigung, «bald» ein «Positionspapier» über seine Vorstellungen zur Deeskalation vorzulegen (nach der Abstimmung wurde in Beijing ein 12-Punkte-Papier veröffentlicht). «Souveränität und territoriale Integrität» müssten «respektiert» werden, sagte der chinesische Vertreter. Erste Priorität habe ein Waffenstillstand. «Dialog und Verhandlungen» seien der «einzig gangbare Weg» zu einer Lösung: «Waffenlieferungen werden keinen Frieden bringen».

Wer der Resolution nicht zustimmte, hielt sich meist still. Im Namen von 18 dieser Staaten (darunter China) gab Venezuela eine Erklärung ab. Die Ukraine-«Krise» sei «mehrdimensional» und es müssten root causes (zugrundeliegende Ursachen) angegangen werden. Gemeint sind in diesem Kontext die Lage der russischsprachigen Bevölkerung in der Ost-Ukraine und die aus der Geschichte abgeleiteten russischen Ansprüche auf die Ukraine. Kern der venezolanischen Erklärung ist der Widerwille - «ein neues, nie debattiertes Regelwerk», das «unilateral» durchgesetzt werde. Gemeint sind wahrscheinlich die neueren UNO-Doktrinen über die Beschränkung der staatlichen Gewalt in- und ausserhalb von Grenzen – die Durchsetzung allgemein geltender Menschenrechte oder die UNO-«Schutzarchitektur», welche ein Recht auf Intervention oder internationaler Strafverfolgung beansprucht, wo staatlicher Schutz versagt.

Die Rolle der Schweiz

Der Resolutionstext war zwischen der EU, den G7 und der Ukraine vorverhandelt worden. An den anschliessenden Verhandlungen war das Ziel, möglichst vielen Staaten eine Zustimmung zu ermöglichen. Aus diesem Grund wurde der Text entschärft. Neue oder umstrittene Inhalte (zum Beispiel ein expliziter Verweise auf einen 10-Punkte-Plan des ukrainischen Präsidenten) wurden durch Formulierungen ersetzt, denen die Generalversammlung bereits einmal zugestimmt hatte (agreed language). Die Schweiz beteiligte sich aktiv an diesem Prozess. Laut EDA legte sie entsprechende Vorschläge vor. Welche, wurde nicht näher detailliert.

An der Debatte wurde die Schweiz durch Bundesrat Ignazio Cassis vertreten. Auf die mehrfach angesprochene und wohl am ehesten interessierende Frage der schweizerischen Neutralität und ihrer politischen Austarierungging er nicht ein. Er verurteilte (agreed language auch hier) die militärische Agression Russlands, stellte sich hinter die ukrainische Selbstverteidigung,  die «Herrschaft des Rechts» und die UNO-Charta, und er versprach: «Die Schweiz ist bereit, ihren Part zu übernehmen».

Rede von Bundesrat Cassis

Text der Ukraine-Resolution der UNO-Generalversammlung