Kolumne

Die Welt braucht Neutrale

von Mirjana Spoljaric Egger * | Januar 2024
Entweder bist du für uns oder gegen uns.

Jahrhundertelang hat dieses Diktum die Menschen in feindliche Lager geteilt. Es heisst, Cicero habe diese Worte zu Julius Caesar gesagt. Politische Führer in ganzer Welt benutzen sie immer noch, um für Unterstützung zu werben.

In einer Zeit, da Grossmachtspannungen steigen und Kriege wüten, mag die Idee der Neutralität vielen bestenfalls anachronistisch und schlimmstenfalls unmoralisch erscheinen. Aber wir müssen den neutral Bleibenden Raum schaffen, um unsere Menschlichkeit zu bewahren. An sehr vielen Orten ist das neutrale humanitäre Handeln heute schwer bedroht.

In einem Konflikt Partei zu ergreifen, ist ein natürlicher Impuls. Es ist gleichzeitig etwas, das meine Organisation, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, nicht tun kann. Täten wir es, wäre es unmöglich, Menschen in den am härtesten umkämpften bewaffneten Konflikten der Welt humanitäre Hilfe zu leisten.

Hier liegt das Problem: Zivilpersonen, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind – sei es in der Ukraine, im Sudan oder in Syrien – erhalten nicht immer die Hilfe, die sie verdienen. Noch schlimmer, sie werden im Kreuzfeuer verwundet und getötet, oder wenn die Kämpfenden die Gesetze des Krieges verletzen.

Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs brachten alle Länder der Welt dazu, sich auf die Schutzvorschriften in Kriegszeiten zu einigen, die in den Genfer Konventionen vorgeschrieben sind. Sie bauen auf jahrhundertealten Kriegsregeln auf und zielen darauf ab, menschliches Leiden zu minimieren, indem sie beispielsweise Vergewaltigung, Folter oder die Exekution von Kriegsgefangenen verbieten.

Das Kriegsrecht existiert, um die niedrigsten Instinkte der Menschheit im Zaum zu halten, weil diese Begrenzung der Brutalität ein Mittel dazu ist, Pfade zum Frieden zu bewahren.

Die Genfer Konventionen bestimmen das IKRK ausdrücklich für die Ausführung von Aufgaben in Kriegszeiten. Aber wo immer die Parteien diese Gesetze nicht befolgen, haben unsere Teams weniger Zugang zu Kriegsgefangenen und Zivilpersonen in Not als ihnen zusteht.

Ein neutrales humanitäres Organ ist ein eigenständiges Element des internationalen Systems. Ohne es wäre das gesamte System schwächer. Die zentralen Werte im humanitären Völkerrecht, vor fast 75 Jahren universell vereinbart, schützten damals Zivilpersonen, Soldaten und Kriegsgefangene. Sie tun es bis zum  heutigen Tag.

Worin liegt der Wert eines neutralen, unparteilichen Organs, das sich der Hilfe für Kriegsopfer verschrieben hat?

Im bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat das IKRK auf beiden Seiten hunderte von Kriegsgefangenen besucht (wir haben nicht alle besucht, aber wir arbeiten darauf hin, dass wir dazu imstande sind). Diese Arbeit ist nur möglich dank unserer Verpflichtung und Treue zur Neutralität – indem wir einen konstruktiven Dialog mit allen Parteien suchen, welche die Lage von Opfern bewaffneter Konflikte verbessern können. Dazu muss mit der Zeit Vertrauen aufgebaut werden. Das nützt einzelnen Gefangenen und ihren Familien auf beiden Seiten.

Derselbe Ansatz erlaubte uns, unsere Operationen in Äthiopien während des Konflikts in Tigray aufrechtzuerhalten, wo wir Spitälern ohne Nachschub Medikamente geliefert haben. In Syrien sind wir so seit über einem Jahrzehnt imstande, verzweifelten Gemeinschaften Nahrungsmittel und Medikamente zu liefern. Im April haben unsere Teams fast 1000 Gefangene auf allen Seiten im Jemen-Konflikt nach Hause transportiert.

Unsere Neutralität erlaubt uns, Gefangene in Guantanamo Bay zu besuchen, und sie hat uns 1993 erlaubt, die gesundheitliche Verfassung eines gefangenen amerikanischen Piloten im “Black Hawk Down” Vorfall in Somalia zu überprüfen.

Dass wir als unparteiisch gegenüber gegnerischen Konfliktparteien wahrgenommen werden, erlaubt uns, in den von ihnen kontrollierten Gebieten sicherer und wirkungsvoller zu operieren. Das IKRK überprüft ständig, wie Worte und Taten die Wahrnehmung der Neutralität zu beeinflussen vermögen, und sucht so zu vermeiden, den Kriegführenden einen Vorwand zur Verweigerung, Blockade oder Behinderung unserer Arbeit zu liefern.

Diese Arbeit mag die Koordination mit den Parteien umfassen, um sicheres Geleit für Zivilpersonen auszuhandeln, wie wir es im vergangenen Jahr in der Ukraine getan haben. Sie schliesst ein, den Austausch der sterblichen Reste gefallener Kämpfer zu ermöglichen, wie wir es lange in Afghanistan taten. Sie erlaubt uns, Nachrichten zwischen Familienmitgliedern auszutauschen, die durch Gewalt getrennt sind, wie wir es in Süd-Sudan oder Kolumbien tun.

Unsere Neutralität wird oft missverstanden. Sie ist ein Mittel, um auf der Grundlage von Bedürfnissen Hilfe zu leisten. Sie bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden als Folge von Kriegsverbrechen und anderen Rechtsbrüchen. Unsere Ansicht über derartige Überschreitungen und ihre schlimmen Wirkungen tragen wir im direkten und vertraulichen Dialog mit Machthabern vor. Unsere Erfahrung zeigt, dass dieser Ansatz eher zu einem positiven Resultat führt, während der Zugang zu den Bedürftigen gewahrt bleibt.

Es müssen nicht alle neutral sein. Aber die Staaten müssen den Raum für humanitäre Neutralität bewahren. Wenn die Welt Partei ergreift, schlagen wir uns auf die Seite der Menschlichkeit. Das macht die Welt zu einem besseren Ort.

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*Die Basler Diplomatin Mirjana Spoljaric Egger ist Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)

Dieser Text erschien am 30. Mai 2023 als Gastbeitrag in der New York Times. Das Original ist in englischer Sprache. Deutsche Übersetzung: Johann Aeschlimann.