Veranstaltungsbericht

Fixe Ideen und neue Lücken in der Sicherheitspolitik

von Christoph Wehrli | April 2024
«Sicherheitspolitik ist mehr als Armee und Neutralität.» In einer Aussenpolitischen Aula haben zwei Referenten diese These mit unterschiedlichen Akzenten ausgeführt. Der frühere Botschafter Martin Dahinden konstatierte in der Politik der Schweiz eine zu enge Sicht von Risiken und Handlungsmöglichkeiten, der Historiker Peter Hug wies pointierter auf fragwürdige (klassisch militärische) Prioritäten und missachtete Gefahren hin.

In einer Online-Fortschreibung des Buchs «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» publiziert die SGA grundlegende Texte zu jenen Themen, die wegen der neuesten Entwicklungen einer zusätzlichen Diskussion bedürfen. Den Anfang machen Beiträge zur Frage «Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken – aber wie?», die an der Universität Bern präsentiert und debattiert worden sind. Wie SGA-Präsident Roland Fischer in seiner Einführung sagte, hat Russlands Krieg gegen die Ukraine speziell Fragen um die Neutralität aktuell werden lassen.(Zu den Beiträgen hier klicken).

Breites Spektrum von Risiken

Martin Dahinden, zuletzt Botschafter in den USA und vorher Chef der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, kritisierte eine Neigung, allein aus dem Ukraine-Krieg Schlüsse, zudem einseitige, zu ziehen. Es gelte, das ganze Spektrum von Risiken in den Blick zu nehmen und dann Strategien zu entwickeln, um einerseits die Risiken zu vermindern, anderseits deren Auswirkungen zu bewältigen. Potenzielle Gefahren sieht Dahinden namentlich auch in entfernten Konflikten, in der Digitalisierung, der demografischen Entwicklung, der Deglobalisierung und im Klimawandel. Dieses Umfeld könne die Schweiz am ehesten mit ihrer beachtlichen, aber zu wenig ausgeschöpften «Soft Power» beeinflussen, die auf Wissen, Kenntnissen und Werten, konkret also auch etwa auf den Hochschulen, beruhe. Konkrete Mittel sind militärische und zivile Friedensförderung, erweiterte Gute Dienste, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Es wäre fatal, betonte Dahinden, wenn diese präventiven Komponenten der Sicherheitspolitik dem Spardruck zum Opfer fielen (wie es zum Teil bereits geschieht).

Die Geltung des Völkerrechts und multilaterale Systeme sind ein wichtiges Anliegen der Schweiz. Es gebe indes kein Zurück zur Ordnung, die nach der Wende von 1989 aufgebaut worden sei, hielt der Analytiker der Sicherheitspolitik fest. Statt westliche Werte verallgemeinern zu wollen, müsse man den globalen Süden einbeziehen und vor allem wieder Vertrauen aufbauen. Mit dem internationalen Genf, dem wichtigsten «Hub» für globale Gouvernanz, verfüge die Schweiz über gute Voraussetzungen dafür. Dahinden sieht durchaus auch bei der militärischen Verteidigung erhebliche Fähigkeitslücken und einen Bedarf an hinreichenden Mitteln, plädiert aber für ein realistisches Kriegsbild, in dem Bedrohungen durch Terrorismus, Cyber-Attacken, Drohnen und hybride Konfliktformen wahrscheinlicher sind als Angriffe mit Truppen auf dem Boden, die ausserdem im angenommenen Fall, nach einer Niederlage der Nato, schwer abzuwehren wären.

Gefährlich einseitiger Mitteleinsatz

Peter Hug, früherer Fachsekretär der SP-Fraktion und Autor mehrerer historisch-sicherheitspolitischer Publikationen, sprach noch deutlicher von technologiegetriebenen Risiken wie billigen Drohnen und von «Strategielosigkeit» der schweizerischen Führung. Guten, wenn auch oft nur sektoriellen Analysen in offiziellen Berichten stünden Massnahmen und eine Verteilung der Ressourcen gegenüber, die umgekehrt proportional zu den Risiken seien. Die Armee sei bei stets gestiegenem Budget grösser sowie schwerer bewaffnet als die Streitkräfte vieler vergleichbarer Staaten, während etwa dem Bundesamt für Cybersicherheit 14 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung stünden, das Parlament auf ein Gesetz über Informationssicherheit wegen des Bedarfs von zwölf Personalstellen gar nicht eingetreten sei und das Gesundheitssystem nur minime Vorhaltekapazitäten für Katastrophen aufweise. Eine auf die wahrscheinlichen Bedrohungen ausgerichtete, nicht durch ein teures Kampfflugzeug «ausgehungerte» Armee wäre für jährlich etwa vier Milliarden Franken zu haben.

Gründe der verkehrten Prioritäten sieht Hug in zersplitterten Verantwortungen, aber auch in einem schiefen (geschichtlichen) Selbstbild der Schweiz. (Joëlle Kuntz, die in ihrem Aufsatz die Neutralität als «das unsterbliche Denkmal» kritisch beleuchtet, war an der Teilnahme kurzfristig verhindert.) Die internationale Anerkennung der Neutralität – auch für den Bundesrat eine nicht mehr überall gegebene Voraussetzung für deren Nutzen – stehe an einem Tiefpunkt, sagte Hug, und das Haager Kriegsrecht von 1907 sei überholt. Er sieht die Konsequenz aber nicht in einem Beitritt zur Nato, zumal diese keinen Beitrag zum Schutz ihrer Aussengrenze verlange. Für den Sicherheitsgewinn, den die Nato der Schweiz heute ohne Mitgliedschaft verschaffe, sollte diese anderweitig eine Gegenleistung erbringen: mit kräftiger Hilfe an die Ukraine, wo sie heute das Schlusslicht bilde, und bei der Umsetzung der UNO-Agenda 2030, wo sie den globalen Süden zu verlieren drohe. Ein Wechsel zur Bündnisfreiheit würde es erlauben, von Fall zu Fall oder projektweise einen Beitrag an die europäische Sicherheit zu leisten.

Streitpunkt Neutralität

In der von Markus Mugglin geleiteten Diskussion traten besonders Differenzen bezüglich der Neutralität hervor. Dahinden beurteilte sie als zukunftsträchtig. Das Haager Kriegsrecht sei weiterhin relevant, sichtbar etwa in allen Handbüchern der Nato. Nötig sei allerdings politischer Spielraum – im Gegensatz zur Forderung der SVP-Initiative –, und die Neutralität verpflichte zu friedenspolitischer Aktivität, zum Beispiel bei der gefährlich erodierten Rüstungskontrolle. Die einzige Alternative wäre ein Beitritt zur Nato, kein Zwischenstatus. Hug wies demgegenüber auf verwirrende Aspekte der Praxis hin: Saudi-Arabien erhält trotz Krieg in Jemen Waffen, die Ukraine jedoch nicht; und die Sanktionen gegen Russland gelten (teilweise) auch für das angegriffene Land. Die erstaunlich gut gelingende Arbeit im UNO-Sicherheitsrat habe mit Neutralität nichts zu tun, meinte Hug, und er beglückwünschte den Bundesrat zu seinem Mut, mit der geplanten Ukraine-Konferenz für einmal gar nicht neutral zu sein.