Kolumne

Die Zeit für neue EU-Verhandlungen ist noch nicht reif

von Rudolf Strahm | Juni 2023
Im EU-Dossier hat der Bundesrat «Eckwerte» für allfällige künftige Verhandlungen beschlossen. Rudolf Strahm, «tier-mondiste» der ersten Stunde, ehemaliger Preisüberwacher und SP-Nationalrat, hält dies für einen wahlpolitisch motivierten, wenig überlegten Schritt. Er kritisiert, dass der Regierung die politische Führungskraft fehlt, um Lösungen für die Hauptschwierigkeiten (Lohnschutz und Einwanderung aus der EU in die schweizerischen Sozialsysteme) zu finden. Und er plädiert dafür, solche Führungskraft einzusetzen, um den bilateralen Weg weiterzutreiben.(jae).


Die Präsidenten der meisten Parteien und Verbände reagierten positiv auf den Eckwerte-Entscheid des Bundesrats, denn dieser entlastet sie vor internem Streit und Stress vor den Wahlen. Doch zwei Jahre nach der Sistierung der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU hat sich die Einstellung gegenüber der EU nicht grundlegend verändert. Die gegensätzlichen Lager – beide repräsentieren bloss je eine Minderheit – bleiben unnachgiebig, und die Pole haben sich konsolidiert. Diese Polarisierung lässt sich indes immer weniger ins Links-Rechts-Schema einordnen.

Da ist auf der einen Seite das nationalkonservative Lager, das keine neuen Abkommen akzeptiert und die Situation einfach weiter aussitzen will. Aber seither haben sich weit über das traditionelle Nein-Lager hinaus auch skeptische liberale und wirtschaftsnahe Gruppierungen organisiert, die durchaus international tätig sind. Sie befürchten, dass mit der Weiterentwicklung des Europarechts unter der Rechtsprechung des EuGH der Spielraum für neue Freihandelsverhältnisse mit aussereuropäischen Drittstaaten beschnitten wird, zumal die EU jetzt auch auf eine Revision des Freihandelsrechts mit der Schweiz drängt. Der Wirtschaftsverband Autonomiesuisse mit 800 mittelständischen Unternehmern und Wirtschaftskadern, dann auch die separat agierenden Gruppierungen Kompass Europa und Pro Schweiz – und auch die Formation FairerBilateralismus.ch – haben die Skepsis verbreitert. Neuerdings befürchten auch Kreise von Big-Pharma eine erzwungene Vollintegration ins Binnenmarktregime.

Da ist auf der andern Seite das Lager der vehementen Abkommenskämpfer, die den Bundesrat unentwegt zu einer Neubelebung der Verhandlungen mit der EU drängen und jedes Powerplay Brüssels als «Erosion» der bilateralen Verträge interpretieren. Ich würde sie der «kosmopolitischen Klasse» zuordnen. Diese ist neben der «Europäischen Bewegung» und «Operation Libero» in akademischen Kreisen verzettelt und geniesst Rückhalt in Redaktionen und Konzernzentralen. Zwischen diesen Polen verbleibt dem Bundesrat der Spielraum für künftige Verhandlungen mit Brüssel, auch mit Blick auf eine spätere Volksabstimmung.

Der Elefant im Raum

In diesem Spielraum könnte der Bundesrat ein Verhandlungspotenzial für eine Art «Bilaterale III» identifizieren. Doch es gibt einen Elefanten im Raum, der derzeit alle Perspektiven für eine plebiszitäre Akzeptanz verstellt – er heisst Europäischer Gerichtshof (EuGH). Besonders die Abwehr gegen eine EuGH-Jurisdiktion bei der Personenfreizügigkeit (speziell beim Lohnschutz) und bei der Unionsbürgerschaft (speziell beim Sozialhilfezugang) ist beim Stimmvolk stark verbreitet. Sie hat verhaltensleitende Bedeutung.

Man bedenke, wie sensitiv die Arbeitnehmerschaft – nicht bloss die Bauarbeiter – bei Lohnfragen und Lohnsicherung reagieren. Oder wie unvermindert emotional Einbürgerungen und Ausländerzugang zur Sozialhilfe angegangen werden. Der Bundesrat kann ein Abkommen vergessen, wenn es in diesen sensiblen Bereichen den EuGH nicht ausschliesst. Der EuGH ist nicht ein neutrales Schiedsgericht, sondern satzungsgemäss das Parteigericht der EU zur steten Weiterentwicklung der Union in Richtung der «ever closer union». Er wirkt selbst dann als rotes Tuch, wenn ein Schiedsgericht zwischengeschaltet würde.

Jahrelang wirkte das Narrativ, die bestehenden bilateralen Abkommen würden laufend abbröckeln, «erodieren». Die EU machte Powerplay mit Nadelstichen mit der Aberkennung der Börsenäquivalenz, mit der Nichtanerkennung der Medizinaltechnik, mit der Unterbindung der technischen Netzstabilisierung beim grenzüberschreitenden Strom und besonders intensiv mit der eingeschränkten Forschungsbeteiligung bei Horizon Europe. Doch die schweizerische Wirtschaft fand diskrete Lösungen, sich zu behaupten – ohne Wirtschaftskrieg mit der EU. Auch die Forschungscommunity ist nach langem Getöse daran, faute de mieux andere Kanäle zu nutzen. Kurz, die Bedeutung der Erosionsthese ist nun selber am Erodieren.

Vor diesem Hintergrund liegen von Protagonisten mit langjähriger Brüssel-Erfahrung mittlerweile mehrere konstruktive Vorschläge für einen Plan B vor: Der ehemalige Staatssekretär Mario Gattiker, der im Auftrag des Bundesrats bei den Sozialpartnern sondierte, hat landesinterne Ausgleichsmassnahmen zum Lohnschutz und zur Lohnsicherung formuliert, die EU-Recht-kompatibel umsetzbar sind. Die EU beharrt aber auf der EuGH-Jurisdiktion und bietet mit der «non-regression clause» eine allgemein gehaltene, aber nicht griffig-justiziable Besitzstandswahrung beim Lohnschutz an.

Sodann hat alt Staatssekretär Michael Ambühl ein Streitschlichtungsmodell vorgestellt, das auf eine explizite Rolle des EuGH verzichtet. Er hat aber auch ein mehrjähriges Interimsabkommen zwischen Bern und Brüssel ins Spiel gebracht, für den Fall, dass mit der heutigen Haltung Brüssels kein plebiszitär erfolgreiches Abkommen zustande kommt. Im Weitern haben der ehemalige Zürcher Justizdirektor Markus Notter und Kollegen eine geschickt durchdachte Lösung für den Lohnschutz vorgetragen, die das EU-Recht voll einhält und im Inland unter anderem die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen erleichtert oder die gesetzlichen Mindestlöhne ausbaut. Doch solche verstärkten Begleitmassnahmen sind momentan durch die strikte Abwehr der Arbeitgeberverbände total blockiert. Hier ist wohl die grösste Baustelle.

Den am weitesten gehenden Plan B hat das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik Luzern zusammen mit dem (europhilen) Institut für Weltwirtschaft in Kiel präsentiert. Unter Weiterführung der geltenden Bilateralen I und II soll ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU angestrebt werden, das sich am Ceta-Abkommen zwischen der EU und Kanada orientiert. Dieses modernste Freihandelsabkommen der EU ist breit gefasst, aber es schliesst die Personenfreizügigkeit und die EuGH-Jurisdiktion aus. Das Konzept eines derartigen Abkommens will in Bundesbern derzeit leider niemand zur Kenntnis nehmen; es hätte wohl erst nach dem Absturz des heute verfolgten Verhandlungsansatzes eine Chance.

Führung wäre gefragt

Es lohnt sich ein Rückblick auf die 1990er Jahre, die nach dem EWR-Nein von 1992 durch eine ähnliche Polarisierung und Deprimiertheit wie heute geprägt waren. Auch damals, im Vorfeld der Bilateralen I, galt die Lohnschutzfrage als Knacknuss: Der 1998 gewählte freisinnige Bundesrat Pascal Couchepin beschleunigte kurz nach seiner Wahl mit dem freisinnigen Direktor des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit Jean-Luc Nordmann und dem ebenfalls freisinnigen Arbeitgeberverbands-Direktor Peter Hasler das Konzept der flankierenden Lohnschutzmassnahmen (FlaM) und konnte sich so mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund – damals mit Serge Gaillard und Paul Rechsteiner – einigen. Der eigentliche juristische Architekt der FlaM war der Arbeitsrechtler und Biga-Chef Jean-Luc Nordmann, der als früherer Arbeitsamtsdirektor im Kanton Baselland die nötige Erfahrung mitbrachte. Die drei Freisinnigen wurden in der vorberatenden Kommission von den damaligen SVP-Exponenten regelrecht als Verräter gebrandmarkt. Im Endeffekt wurden jedoch die Bilateralen I im Mai 2000 dank den FlaM mit einem Volksmehr von 67 Prozent angenommen.

Die heutige Situation ist vergleichbar. Aber bei der Bewältigung des Elefanten im Raum fehlt heute die Führung. Es fehlt jemand, der das Arbeitsrecht und die FlaM-Praxis von Grund auf kennt und gleichzeitig – das ist matchentscheidend – von der Regierung politisch gestützt wird. Das Seco ist heute nicht in der Lage, einen solchen Kraftakt durchzuziehen, auch wenn die Direktorin guten Willens die Gespräche leitet. Und im EDA fehlte die Führungskompetenz bei Wirtschaftsfragen schon immer. Mit etwas Distanz betrachtet, ist das heutige Debakel rund um die Neuverhandlungen mit Brüssel ein Governance-Problem auf den Stufen des Bundesrats und der obersten Verwaltung. Es fehlt an konstanter Praxis und realistischer Beurteilung. In den letzten zehn Jahren wurden für die Verhandlungen zum Rahmenabkommen fünf Chefunterhändler eingesetzt (und zum Teil verheizt). Brüssel kennt diese Schwäche der Schweiz und nützt sie aus. Bevor sich der Bundesrat auf weitere Verhandlungen mit Brüssel festlegt, müsste dieses Führungsproblem geklärt werden. Nun setzt sich der Bundesrat selber unnötig unter Zeitdruck.

Der EU-Chefunterhändler Maros Sefcovic drängt mit etlicher Nervosität auf Tempo. Der slowakische EU-Kommissions-Vizepräsident wurde als «Mann für das Grobe» auf die Schweiz angesetzt. Nun läuft 2024 das Kommissionsmandat aus, und er steht ohne Resultat da. Bislang hat Brüssel unter seiner Federführung das Powerplay gegen die Schweiz aufgezogen – mit der Kollateralwirkung, dass es mental den Widerstand in der Schweizer Bevölkerung verstärkte. Jetzt setzt Sefcovic dem Bundesrat Fristen. Und gleichzeitig ist Brüssel nicht bereit, sein altes Verhandlungsmandat zum Rahmenabkommen zu modifizieren. Das macht es schwierig. Es wird schier unmöglich, vor den Europawahlen 2024 zu Resultaten zu kommen. Läge vielleicht ein Interimsabkommen als Zwischenschritt näher? Sicher ist: Die Schweizer Bevölkerung und die Wirtschaft müssen noch vom Vorteil eines neuen Abkommens überzeugt werden, welches mehr bietet als bloss die Aufhebung der bisherigen Nadelstiche.

Gewiss sind jetzt auch weitere Entscheide nötig, etwa in den Bereichen Strom, Lebensmittel oder Gesundheit. Der Bundesrat müsste aber die Zeit nutzen, um Alternativen auszuloten und die nötigen internen Ausgleichsmassnahmen vorzubereiten. Zuallererst aber braucht es jetzt in Bern interne Konsensfindung mit den Verbänden und Entscheide zur Führung, erst danach Verhandlungen zu einem Abkommen – in dieser Reihenfolge, und nicht umgekehrt!

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Dieser Text erschien zuerst als «Gastkommentar» in der Neuen Zürcher Zeitung.