Veranstaltungsbericht

Ermunterung zum Blick auf das EU-politische Ganze

von Christoph Wehrli | Februar 2024
Der deutsche Europaparlamentarier Andreas Schwab plädiert dafür, in den Beziehungen der Schweiz zur EU mehr auf das Gemeinsame und die grundsätzlichen Vorteile des Zusammengehens zu schauen. Die zu oft im Vordergrund stehenden Detailfragen liessen sich lösen, sagte Schwab an einer Veranstaltung der SGA und der Europäischen Bewegung Schweiz (EBS) in Bern.

Im Vorfeld der Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Europäischen Union scheinen in der schweizerischen Debatte Fragen wie die Spesenregelung bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen oder der Daueraufenthalt bei Sozialhilfebezug eine grosse Bedeutung zu erhalten. Der süddeutsche CDU-Politiker Andreas Schwab, der die Delegation des Europaparlaments für die Beziehungen zur Schweiz leitet, kennt das Dossier und die umstrittenen Punkte. In einer Aussprache im Anschluss an das Jahrestreffen mit der entsprechenden Delegation der Bundesversammlung in Bern wollte er indessen eine gewisse Distanz von den technischen Einzelheiten schaffen und dadurch zu einer Entkrampfung der Sichtweise beitragen. Man rede vor allem über Details, weil es uns – in Deutschland wie in der Schweiz - zu gut gehe. Wenn die Gründerväter der EU ebenso kleinkrämerisch gedacht hätten, wären sie nicht weit gekommen. Es gelte, die grossen Linien im Auge zu behalten, sagte der Gast nach der Begrüssung durch den SGA-Präsidenten Roland Fischer.

«Die Schweiz bleibt souverän»

Vieles verbinde die Europäer miteinander, sagte Schwab und verwies etwa auf die konsumierten Produkte. Einzig die staatlichen Verfassungen seien verschieden. In den Mitgliedsländern der Union seien rund 70 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass man gemeinsam stärker sei – die AfD mache denn auch einen Fehler, wenn sie einen deutschen Austritt aus der EU ins Spiel bringe. In der Schweiz erschwerten die öffentliche Meinung und das politische System eine solche Haltung, räumte Schwab ein (dazu kommt, wie ein Diskussionsteilnehmer bemerkte, dass es der Schweiz in ihrer jetzigen Position ganz gut geht). Doch in den vertraglichen Beziehungen zur EU brauche es seit längerem Anpassungen, um das Gleichgewicht zu wahren und ein Zurückfallen hinter die Entwicklung zu verhindern.

Einen grossen Schritt wie einen Anschluss an den EWR - die einfachste, aber eben vom Volk schon einmal abgelehnte Lösung - hält Schwab unter den heutigen Zeitumständen, da man eher zum Bewahren neige, nicht für möglich. Den in Aussicht stehenden Verhandlungen über weitere und ergänzte sektorielle Verträge blickt der Politiker jedoch zuversichtlich entgegen. Differenzen wie jene um die (von Deutschland nicht angewandte) Spesenregelung hält er für lösbar. Die Schweiz, betonte er, bleibe souverän und insbesondere frei, sich an bestimmten Neuerungen nicht zu beteiligen. Letzteres Verhalten hätte allerdings (negative) Konsequenzen, wie der EU-Parlamentarier nicht verschwieg; sein Souveränitätsbegriff ist wohl formal.

Trotz seiner positiven Lagebeurteilung drang Schwab nicht explizit auf ein hohes Tempo der Verhandlungen, verneinte jedenfalls, dass die Übergabe des Geschäfts an eine neue EU-Kommission nach den Wahlen im Sommer ein Problem wäre. Schweizerischerseits wäre ein Abschluss bis Ende 2024 insofern von Vorteil, als dann, wie es der EBS-Generalsekretär Raphaël Bez einschätzte, eine Abstimmung vor dem Wahljahr 2027 stattfinden könnte.

Ein halbherziger Partner

Die erfrischende, eher lockere Art, wie sich Schwab äusserte, änderte nichts an seinen Positionen, die im Wesentlichen mit den offiziellen der EU übereinstimmten. Feste Grössen sind die Unionsverträge und auch die Rolle des Europäischen Gerichtshofs – das Recht der EU dürfe nicht zerfasern. Auf eine Frage hin bestritt er, dass Brüssel die Schweiz mit «Nadelstichen» traktiere, und zerstreute Hoffnungen, das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse könnte schon vor Unterzeichnung des neuen Pakets aktualisiert werden (Stichwort Medizinaltechnik). Für ein Scheitern der bevorstehenden Verhandlungen, beziehungsweise eine Ablehnung des Ergebnisses hätte er offenkundig keinerlei Verständnis.

Im Weiteren sprach er offen an, was er als grundsätzliche Hemmnisse in der Schweiz ausmacht: die seiner Meinung nach relativ schwache rechtliche Stellung der Gewerkschaften, die umso härter um ihre Macht als Organisationen kämpften, eine reaktive Haltung der politischen Führung gegenüber der europapolitischen Opposition (der SVP) und eine gewisse Scheu vor direkten Kontakten mit der Behörde in Brüssel. Schwab kam sogar auf den Besuch des damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker in Bern zurück. Im November 2017 verkündete dieser einen Verhandlungsabschluss im folgenden Frühling als gemeinsame Absicht. Nach schweizerischer Darstellung hatte man dem vorher widersprochen, da man sich nicht unter Zeitdruck setzen wollte. Für Schwab ist jene atmosphärisch wichtige Differenz hingegen eine Folge mangelnder Offenheit der schweizerischen Gesprächspartner. Kopfschütteln löst es bei dem engagierten Europäer schliesslich aus, wenn die EU als Experiment bezeichnet wird und damit zum Ausdruck kommt, dass die Schweiz sich nicht beteiligt fühlt. Kaum zufällig vermied Andreas Schwab in seinen Ausführungen über die künftigen Abkommen das Wort «bilateral», das wohl Kooperation und zugleich Abgrenzung impliziert.