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Gaza in Bern: Ja ? Enthaltung? Wieviel Neutralität?

von Johann Aeschlimann | November 2023
Die Schweiz hat der Gaza-Resolution der UNO-Generalversammlung zugestimmt. Weil sie die in Gaza regierende Hamas nicht beim Namen nennt, steht die Berner Diplomatie im Gegenwind: Zu viel Neutralität.

Der Massenmord an 1400 Zivilpersonen in Südisrael vom 7. Oktober 2023 schlägt in Wahrnehmung und Reaktion ähnlich aus wie der Massenmord vom 11. September 2001 in den Türmen von Manhattan: das neue nine-eleven heisst ten-seven. Der grassierende Hang zur «Kontextualisierung» von Unmenschlichkeit macht sich verdächtig, dafür wächst das Verständnis für limitierte Menschlichkeit in der Reaktion.  «Free Palestine» gilt jetzt als Verständnissignal für Hamas, welche die Oktobermorde verübte (und auch in der vierten Woche danach noch Raketenangriffe lanciert) und den Gazastreifen seit einem Wahlsieg 2006 regiert. «Nie wieder» wird zum Schlachtruf für den erbarmungslosen Krieg in Gaza, dem tausende von Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Wer Hamas weghaben will, gilt als Kolonialistenknecht, wer «Waffenstillstand» sagt, als ihr Diener.

Was Bern will

In dieser Lage agiert die Schweizer Diplomatie in New York. Als Mitglied der Generalversammlung und des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen muss – darf – sie über die Texte abstimmen, in denen die «Weltgemeinschaft» Stellung bezieht. Wie sie denkt, hat sie in den Debatten mehrfach gesagt: Sie verurteilt die «Terrorakte der Hamas». Sie anerkennt Israels Recht, seine Verteidigung und Sicherheit sicherzustellen. Sie fordert die «sofortige Freilassung von Geiseln». Sie pocht auf die uneingeschränkte Einhaltung des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts -   notamment les principes relatifs à la conduite des hostilités,  les principes de distinction, de proportionnalité et de précaution. Sie verlangt «schnellen, sicheren und ungehinderten humanitären Zugang zu Gaza». Sie sorgt sich um eine Ausweitung des Kriegs auf die gesamte Region. Kurz: Die Schweiz will, dass die Gewaltakte der Hamas ein Ende haben, und dass Israel bei seinem Vergeltungskrieg das internationale Kriegsrecht einhält und den humanitären Hilfsorganisationen Zugang zur Kampfzone verschafft, damit die Not von Unbeteiligten – zum Beispiel Säuglinge oder Greise – gelindert werden kann und Ärzte nicht mehr ohne Narkose operieren müssen.

Dies zu fordern und zu sagen, ist eine Sache. Es in Worte zu fassen und für diese die nötigen Mehrheiten zu finden, ist eine andere. Im Sicherheitsrat ist es bisher nicht gelungen, vier Resolutionsentwürfe wurden mit Vetos belegt oder erhielten die nötige Mehrheit nicht. Die USA legten ihr Veto ein, weil der brasilianische Entwurf den «Terrorismus» und die Hamas als «Terroristen» nicht beim Namen nannte (der amerikanische Entwurf – dem die Schweiz zustimmte – enthielt den Begriff «Terror» gleich ein halbes Dutzend Mal). Russland und China legten das Veto ein, weil die Entwürfe Brasiliens und der USA den Begriff «Waffenstillstand» nicht enthielten, was Israel freie militärische Hand liess. Die einzige Verlautbarung der «Weltgemeinschaft» ist die Resolution der Generalversammlung vom 27. Oktober. Sie verlangt einen « sofortigen, dauerhaften und anhaltenden humanitären Waffenstillstand, der zur Einstellung der Feindseligkeiten führt».

Was zu entscheiden war

Mit Ausnahme zweier russischer Entwürfe, die den Sicherheitsratsmitgliedern ohne «Konsultation» auf den Tisch geknallt wurden, hat die Schweiz sich an allen Formulierungsübungen beteiligt. Sie hat – im Verein mit vielen anderen – ihre Anliegen eingebracht, manchmal erfolgreich, manchmal nicht. Oberste Priorität war der «humanitäre Zugang» in Gaza. Das sei «am dringendsten» - au plus pressant – erklärte die Schweiz am 27. Oktober zu ihrer Stimmabgabe in der Generalversammlung. Zusammen mit 121 anderen Staaten hatte sie die Resolution angenommen, obwohl diese weder die Hamas  namentlich verurteilt, noch die Freilassung der Hamas-Geiseln fordert. Der von Jordanien vorbereitete Text erwähnt zwar die «jüngste Eskalation der Gewalt seit dem Angriff vom 7. Oktober», verurteilt jedoch nur in allgemeiner Form «alle Terrorakte» und fordert die Freilassung «aller illegal festgehaltenen Zivilisten». Ein kanadischer Verschärfungsantrag scheiterte am notwendigen Zweidrittelmehr. Für eine Mehrheit der Europäer war das zu wenig. 4 europäische Staaten (Oesterreich, Ungarn, Kroatien, Tschechien) stimmten mit Nein, 21 enthielten sich. Mit der Schweiz stimmten 12 andere Europäer: Andorra, Belgien, Bosnien, Frankreich, Irland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Norwegen, Portugal, Slowenien, Spanien.

Ein langer Freitag

Viel Zeit zum Überlegen in Bern war nicht. Die Sitzung der Generalversammlung fand in einem Sonderformat statt – als Wiederaufnahme der 10th emergency special session über «illegale Israelische Aktionen im besetzten Ostjerusalem und dem Rest des besetzten palästinensischen Gebiets», die seit 1997 besteht und von Zeit zu Zeit reaktiviert wird. Jordanien legte zur Wochenmitte einen Textentwurf vor, zu dem die Mitgliedsstaaten innerhalb eines Tages Änderungsvorschläge einreichen konnten. Am Freitagmorgen, 27. Oktober, ging der finale draft (Vorlage) in Bern ein. Verschiedene Eingaben waren aufgenommen worden, nicht aber die  Forderungen, Tat und Täter vom 7. Oktober zu benennen. Wenig später kam der kanadische Antrag dazu. Im Verlauf des Freitagnachmittags wurde bekannt, dass die Abstimmung in der Generalversammlung am selben Tag, um 21 Uhr Schweizer Zeit, stattfinden werde.

Wie entscheiden? Die beiden Hauptanliegen der Schweiz waren aufgenommen. Der Text verlangt eine humanitäre Waffenruhe und fordert in zwei Abschnitten die uneingeschränkte Einhaltung von Menschen-, Völker- und Kriegsrecht. Dass der kanadische Zusatz die erforderliche Mehrheit verpassen würde, war abzusehen. Aus diesem Grund bereitete die Verwaltung in Bern eine «Explanation of Vote» vor, die Erklärung zum Stimmverhalten, die alle Schweizer Anliegen nochmals aufnimmt. Doch wie war zu entscheiden -  Ja oder Enthaltung? Der letzte Entscheid lag dem Vernehmen nach beim Aussenminister, Bundesrat Cassis. Zuvor wurde innerhalb der Verwaltung konsultiert. Wie sehr das Für und Wider umstritten war – und ob überhaupt – ist nicht zu erfahren. Gelegenheit dazu besteht mit der seit Jahren bewährten, ebenso wenig bekannten wie einzigartigen elektronischen Konsultations-Plattform, auf welcher die UNO-Geschäfte in der Bundesverwaltung konsultiert und vorbereitet werden. Jedes Mitglied der Bundesverwaltung – quer durch alle Departemente – kann sich für ein bestimmtes Geschäft «abonnieren» und die Diskussion verfolgen. Was den Sicherheitsrat betrifft, hält die «UNO-Koordination» des Aussendepartements  mehrmals wöchentlich via institutionalisierte Koordinationssitzungen mit Vertretern des EDA und der anderen Departemente Kontakt, um sich über die rasch getaktete Agenda dieses Gremiums abzusprechen. Für Sicherheitsratsgeschäfte ist festgelegt, dass politisch besonders sensible Fragen auf angemessener höherer Ebene zum Entscheid vorgelegt werden: dem Staatssekretär, dem Departementsvorsteher, schliesslich dem Gesamtbundesrat. Bei der Schaffung neuer Sanktionsregimes oder der Genehmigung militärischer Durchsetzungsmassnahmen sollen zusätzlich auch die Präsidenten der Aussenpolitischen Kommissionen einbezogen werden.

Im vorliegenden Fall – Ja oder Nein zur Gaza-Resolution der UNO-Generalversammlung – wurde innerhalb des Aussendepartemens entschieden. Den letzten Entscheid traf dem Vernehmen nach am Freitagabend Bundesrat Cassis. Aus den anderen Departementen wurde offenbar im elektronischen Konsultationsverfahren kein Vorbehalt laut.  Die Parlamentarier wurden nicht gefragt. Sie mussten auch nicht gefragt werden, denn ihr Einbezug ist nur für Positionsbezüge im Sicherheitsrat vorgesehen, dessen Beschlüsse – zum Beispiel Sanktionen - rechtlich bindenden Charakter haben. Die Resolutionen der  Generalversammlung haben dagegen keine bindende Kraft.