„Humanitärer Zugang“: Mit einer Grenzöffnung ist es nicht getan

von Til Hänggi* | Dezember 2023
In Gaza, wo eine halbe Million Menschen „katastrophalen Hunger“ (UNO) leiden, ist der mangelnde „humanitäre Zugang“ derzeit am augenfälligsten. Auf die internationale Tagesordnung gelangte das Konzept durch einen älteren Fall: Vor zehn Jahren hat der UNO-Sicherheitsrat die Öffnung türkisch-syrischer Grenzübergänge befohlen, um die Versorgung von Millionen Menschen sicherzustellen. Die Schweiz hat mit Brasilien die Federführung im Dossier.

Der seit 2011 andauernde Konflikt in Syrien hat eine ernsthafte humanitäre Krise verursacht und unterstreicht die entscheidende Bedeutung des Zugangs zu Gütern und Dienstleistungen für die seit mehr als zwölf Jahren betroffene Zivilbevölkerung. Der Fokus auf den humanitären Zugang (humanitarian access) wird besonders wichtig, wenn Hilfe über staatliche Grenzen hinweg geleistet werden und sowohl mit staatlichen Instanzen als auch mit terroristischen Organisationen ausgehandelt werden muss. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit seinen sieben humanitären Grundsätzen spielt eine Schlüsselrolle. Die Schweiz ist als federführendes Mitglied des UNO-Sicherheitsrats in die Verhandlungen eingeschaltet.

Der seit mehr als zwölf Jahre anhaltende Konflikt hinterlässt tiefe Spuren in Syrien. Ein Kampf zwischen der Zentralregierung und verschiedenen terroristischen Gruppierungen prägt das Land,. Die dringenden Bedürfnisse und Grundrechte der Zivilbevölkerung geraten dabei aus dem Blickfeld.  In Nordwestsyrien sind etwa 2,8 Millionen Menschen, sowohl in als auch ausserhalb von Notlagern, auf dringende Versorgung angewiesen. Dabei fehlt es an Grundnahrungsmitteln, elementarer Infrastruktur und medizinischer Versorgung. Durch die Frontlinien im Land selbst ist der Nachschub nicht gewährleistet. Er muss aus der Türkei über die Grenze geleistet werden. Der „humanitäre Zugang“ über die Grenzübergänge ist Gegenstand dauernder Auseinandersetzungen und stellt eine Barriere für den Zugang zu lebensnotwendigen Hilfsgütern dar.

Die nordwestlichen Gebiete Syriens sind von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert, und der Kontrolle der Regierung in Damaskus entzogen. Die Regierung präferiert eine zentralisierte Verteilung von Hilfsgütern über Damaskus, stellt jedoch Bedingungen, die von den humanitären Organisationen, wie dem IKRK, nicht akzeptiert werden können. So verbietet die syrische Regierung beispielsweise jeglichen Kontakt mit als terroristisch eingestuften Gruppen. Das IKRK lehnte dies ab, da es im Widerspruch zu seinen humanitären Prinzipien steht.

UNO-Sicherheitsrat ordnet an

Um die restriktiven Bedingungen der syrischen Regierung zu umgehen, ordnete der UNO-Sicherheitsrat ab 2014 die Öffnung des türkisch-syrischen Grenzübergangs Bab al-Hawa für Hilfstransporte per Lastwagen an. Diese Entscheidung sollte sicherstellen, dass dringend benötigte Hilfsgüter die notleidende Bevölkerung erreichen können. Allerdings stiess die Verlängerung dieser Massnahme im Juli dieses Jahres auf das Veto Russlands im Sicherheitsrat. In Reaktion darauf öffnete Syrien drei Grenzübergänge einseitig und befristet, darunter Bab al-Hawa, bis zum 13. Februar 2024. Diese Unsicherheiten über die Zukunft der Grenzübergänge wirft einen Schatten über die Bevölkerung im Nordwesten Syriens, die weiterhin auf externe Hilfsgüter angewiesen ist, insbesondere angesichts der sich verschlechternden und harschen Winterbedingungen.

Über die Öffnung der Route hinaus steht die Verteilung von Hilfsgütern über Lastwagen vor erheblichen Herausforderungen. Sicherheitsrisiken machen Lastwagen zu potenziellen Zielen für Angriffe und Überfälle, selbst wenn diese Risiken überwunden werden können. Die eingeschränkte Zugänglichkeit aufgrund beschädigter Infrastrukturen bleibt ein zentrales Problem, das den reibungslosen Transport von Hilfsgütern behindert. Die komplexe Koordination zwischen verschiedenen Akteuren und die Notwendigkeit schwieriger Entscheidungen zur Verteilungsgerechtigkeit stellen zusätzliche Hürden dar. Diese Aspekte werden im Diskurs über den humanitären Zugang häufig vernachlässigt, obwohl sie von entscheidender Bedeutung sind. Dies unterstreicht die essentielle Bedeutung effizienter Koordination und internationaler Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass humanitärer Zugang nicht nur ermöglicht, sondern auch effektiv und gerecht umgesetzt wird.

Das Völkerrecht wäre eindeutig

In einem Interview hat Dominik Stillhart, Vizedirektor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), vor kurzem betont, dass der humanitäre Zugang durch das Internationale Humanitäre Völkerrecht (IHL) geschützt ist. Er zielt darauf ab sicherzustellen, dass die von Konflikten betroffene Zivilbevölkerung, Zugang zu Gütern und Dienstleistungen haben - ein Grundprinzip des IHL. Bei konsequenter Einhaltung des IHL würde die Frage nach dem humanitären Zugang nicht aufkommen. Die syrische Regierung wäre verpflichtet, die Grundversorgung für die Menschen in den nordwestlichen Regionen sicherzustellen, unabhängig davon, ob diese Gebiete von Rebellen oder anderen Oppositionsgruppen kontrolliert werden. Die Kämpfe um humanitäre Zugänge würden obsolet. Die praktische Anwendung des humanitären Zugangs wird jedoch oft transaktional genutzt, um politische Ziele wie Konzessionen zu verfolgen. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis unterstreicht die Komplexität der Hilfeleistung für Bedürftige. Aus diesem Grund beansprucht der UNO-Sicherheitsrat gemäss der Doktrin „Schutz der Zivilbevölkerung“ (protection of civilians) das Recht, von aussen zu intervenieren, wie es im Fall der Grenzöffnung von Bab al-Hawa geschehen ist.

Die Rolle der Schweiz

Als Depositärstaat der Genfer Konventionen legt die Schweiz grossen Wert auf den „Schutz der Zivilbevölkerung“. In ihrer Rolle als Federführerin (co-penholder) mit Brasilien in den Verhandlungen über den humanitären Zugang zu Nord-Syrien kann die Schweiz aufgrund ihrer Präsenz im UN-Sicherheitsrat für die Prinzipien des IHL werben und die Einhaltung von Resolutionen überwachen. Damit verfolgt die Schweiz in ihrer Arbeit im Sicherheitsrat mindestens zwei ihrer vier thematischen Prioritäten: den Schutz der Zivilbevölkerung und die Förderung nachhaltigen Friedens. Obwohl die Schweiz auf diese Weise ihre Verantwortung wahrnimmt, stösst ihr Einfluss an Grenzen. Im Mai dieses Jahres versuchten die Schweiz und Brasilien als penholders (federführende Mitglieder) im Sicherheitsrat, den Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien mit einer weiteren Resolution für zwölf Monate offen zu halten, was jedoch durch das Veto Russlands verhindert wurde. Das Veto kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden, darunter geopolitische Interessen, bestehende Allianzen mit der syrischen Regierung, Bedenken bezüglich regionaler Auswirkungen oder einen mögliichen provokativen Widerstand seitens Russlands. Infolgedessen werden die Bemühungen westlicher Mächte um die Durchsetzung des „Schutzes der Zivilbevölkerung“ eingeschränkt, und das Dilemma des Vetorechts der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats wird deutlich.

Macht gegen Recht

Die gegenwärtige Weltlage verdeutlicht zweifellos die drängende Notwendigkeit des humanitären Zugangs. Die Herausforderungen in Syrien sind nicht nur ein Teil, sondern ein düsteres Kapitel in einem globalen Mosaik von Leid. Die Ukraine, der Gazastreifen oder der Sudan sind Schauplätze, an denen der Zugang zu humanitärer Hilfslieferungen Millionen von Zivilpersonen weiterhin verwehrt bleibt. Es ist besorgniserregend einfach im Getümmel der aktuellen Weltlage die humanitäre Lage in Syrien zu vernachlässigen. Dennoch ist es wenig sinnstiftend, den Fall Syrien isoliert zu betrachten. Er muss in den Kontext der umliegenden Konflikte eingebettet werden. Die Dringlichkeit und Relevanz des humanitären Zugangs bleiben somit weiterhin brandaktuell und erfordern einen fortwährenden öffentlichen Diskurs.

Die Kluft zwischen den noblen Theorien des IHL und den tatsächlichen Entscheidungen wird nicht nur zunehmend offensichtlich, sondern geradezu schockierend. In Situationen, in denen ein Staat seiner IHL-Pflicht nicht nachkommen kann, wird die Rolle von Organisationen wie dem IKRK noch entscheidender. Dabei soll die Umsetzung der Prinzipien der humanitären Hilfe als oberstes Ziel betrachtet werden. Nur so kann das IKRK seine Souveränität sichern und auch in höchst kritischen und komplizierten Situationen weiter Hilfe garantieren.

Die Bemühungen der Schweiz, die Effizienz im Sicherheitsrat zu stärken, gewinnen angesichts von Vetos und Uneinigkeit an Bedeutung. Ihre hochgesteckten Ambitionen für die zwei Jahre im Sicherheitsrat, getrieben von den Werten des IHL und ihrer Rolle als Depositärstaat der Genfer Konventionen, stehen vor harten Realitäten der geopolitischen Machtpolitik. In einer Welt, die von Konflikten und politischen Eigeninteressen geprägt ist, bleibt die Frage, ob die Schweiz und andere Akteure über symbolische Gesten hinausgehen und echten Wandel zum Wohl der Zivilbevölkerung bewirken können, offen und gleichzeitig beunruhigend.

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* Til Hänggi ist Student der Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität Basel. Er fokussiert auf nationale und internationale Gesundheitsfragen und Inklusion. Wir machen gerne darauf aufmerksam, dass unsere Webseite Studierenden für Beiträge zur schweizerischen Aussenpolitik offen steht.